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Auf zwei Rädern
von
Herbert Henck
für Jutta zum 39. Geburtstag
Als Jana so alt geworden war, dass sie vormittags nach dem Frühstück zunächst in den Selsinger Kindergarten, später dann in den Deinstedter Spielkreis und schließlich
wieder nach Selsingen in die Grundschule ging, holten Jutta und ich unsere Fahrräder aus dem Keller, pumpten frische Luft in die Reifen und nutzten bei schönem Wetter die Zeit ihrer Abwesenheit zu
gemeinsamen morgendlichen Ausfahrten.
Wir genossen die Unabhängigkeit und Möglichkeit, nach mehreren anstrengenden Jahren elterlicher Pflichterfüllung und Fürsorge wieder etwas gemeinsam, nur zu zweit
zu unternehmen, sei es auch nur für die Dauer solch einer bescheidenen, kaum je eine Stunde überschreitenden Spazierfahrt in der Umgebung. Wer Kinder hat, wird mich verstehen.
Um unsere zumeist sitzende Lebensweise auszugleichen, waren wir zwar auf leichte körperliche Ertüchtigung bedacht, doch stand diese nie im Vordergrund und nahm selbst dann keinen
sportlichen Charakter an, wenn wir einmal eine immer kurze, vorzugsweise abschüssige Strecke Wegs um die Wette fuhren oder einer dem anderen im Wunsche vorauseilte, kräftiger in die Pedale zu treten und die
Muskeln energischer zu betätigen. Dies war jedoch die Ausnahme. Meistens fuhren wir gemächlich neben- oder hintereinander her, je nachdem, wie es Art und Breite der Straße oder der Verkehr erlaubten,
ob wir uns unterhalten oder lieber den eigenen Gedanken nachhängen wollten.
Schwarzer Tee war getrunken, zwei oder drei Tassen, mit und ohne Zucker; Brot war gegessen, ein oder zwei Scheiben. Die Katzen waren gefüttert und ins Freie entlassen. Doch die Stunde
war zu früh, um sich beruflicher, häuslicher oder gar gärtnerischer Arbeiten anzunehmen – Körper und Geist rangen noch mit der Müdigkeit. Bewegung tat not, dem Kreislauf auf die Beine zu helfen und
die Sinne zu wecken.
So dienten die Fahrten dem allgemeinen Erwachen, der seelischen Einstimmung auf das Tagesgeschehen, der Rüstung für das Kommende, waren zugleich aber Freude an der Bewegung
wie an der Landschaft, durch die sie uns führte, Gefallen an der Gegend, dem Wachstum auf Feld, Wald und Wiesen, dem Leben der Bäume, Büsche, Gräser, Kräuter und Blumen, dem Anblick der Tiere, die wir in den
geöffneten Ställen, auf den Weiden oder in ihrer natürlichen Freiheit zu sehen bekamen, Freude an der Frische des Morgens, der Kühle des Fahrtwinds, den Strahlen der Sonne, der wir, manchmal ganz ungeniert mit
einem Lied auf den Lippen, entgegen fuhren und die uns später die Rücken wärmte, Freude am gemeinsamen Tun.
Dass nicht jede Ausfahrt Neues bot, kümmerte uns nicht. Im Gegenteil. Dauer und Kräfteaufwand bestimmter erprobter Routen im voraus ermessen und ihre Eigenarten wiederholt erleben
zu können, trug entschieden zu ihrem Genuss bei. Es ging nicht um Erkundung oder Abwechslung, nicht die Befriedigung einer Neugierde, sondern zumeist um nichts weiter als eine Art ruhig fahrender Betrachtung,
der nichts zu gering war, wahrgenommen zu werden, und die für alles, was es gab und was sich tat, empfindlich und empfänglich war.
Sahen wir einen Hasen oder ein Kaninchen über den Weg hoppeln, hörten eine Lerche so hoch oben zwitschern, dass man den blendend hellen Himmel lange nach ihr absuchen musste, begegneten
wir einem Raubvogel, der unbeweglich auf einem Weidezaun saß, oder vielleicht sogar ein paar Rehen, die unser Nahen längst bemerkt hatten und Reißaus nahmen, hörten wir einen Specht hämmern, fanden
im Herbst ein paar essbare Pilze unter den Birken am Straßenrand oder Kastanien, die wir für Jana als Spielzeug auflasen, war dies alles mehr als erwartet und zählte schon zu den kleinen
Denkwürdigkeiten.
Fahrrad fuhren wir beide sehr gerne, Jutta auf ihrem roten, einst im Bremer Ostertorviertel maßgeschneiderten »Renner« mit zehngängiger Kettenschaltung, ich auf meinem
dreigängigen, ältlich silbergrauen, von uns inzwischen neu bereiften Gefährt aus dritter, wenn nicht vierter Hand, das nur sechzig Mark gekostet hatte, meinen Ansprüchen aber vollauf genügte. Es war nicht für
hohe Geschwindigkeiten ausgelegt – daran konnten auch die schnittigen Beschriftungen »Monza, macht mehr draus« auf der Klingel und »Torpedo« auf dem Gehäuse der Gangschaltung nichts ändern. Doch passte
es zu mir, und ich schätzte seine Unauffälligkeit.
Bestand die Halterung von Juttas Gepäckträger aus einem kräftigen schwarzen Gummiband, das über das zu Befördernde gespannt wurde, so hatten wir auf dem meinen ein weiß lackiertes
Drahtkörbchen befestigt, in dem sich Größeres verstauen ließ. Öfters kam eine Stofftasche mit unseren Schlüsselbunden und Portemonnaies hinein, die in den Hosentaschen beim Fahren hinderlich waren; ansonsten
nahm es Pullover und Regenjacken auf, die wir je nach Witterung an- oder auszogen, unterwegs gefundene Feldsteine zur Verschönerung des Gartens oder gepflückte Blumen bei besonderen Anlässen.
Auch eine Tüte mit frisch gebackenen Brötchen für ein zweites Frühstück und ein paar süßen Mitbringseln für Jana kamen in dieses Körbchen, als wir eine Zeitlang
den Bäckerwagen zufällig trafen oder auch gezielt abfingen. Dieser fuhr jeden Donnerstag über die Dörfer und Siedlungen, in denen es (wie in Deinstedt) keine Geschäfte gab, und zwei Selsinger Bäckereien
machten sich sogar Konkurrenz bei dieser Suche nach Kundschaft. Die Verkäuferinnen taten ihr Eintreffen durch mehrfaches Hupen kund, parkten dann in vorbestimmten Hofeinfahrten, öffneten ihren Verschlag, und
schon präsentierten sich allerlei Brote und Brötchen, Kuchen, Tortenstücke, Gebäck, die gängigen Süßigkeiten für die Kinder und sonstige beliebte Waren. Die Anwohner, bei frischem Wetter erst halb in ihren
Mänteln, eilten aus den Häusern herbei und besahen sich das Angebot.
Der erste Berufsverkehr war vorbei. Außer uns war fast niemand unterwegs. Da unser Weg teilweise durch Gelände führte, in das selbst Trecker nur zur Erledigung bäuerlicher
Arbeiten kamen, ergaben sich Gespräche mit Fremden so gut wie nie. Auch auf den Höfen, an denen wir vorbei kamen, war selten jemand zu sehen. Die Kühe im Stall waren längst gefüttert und
gemolken, die Milch war abgeholt. Die Kinder waren in der Schule. Vielleicht vesperten die Bauern nun.
*
Die bei weitem längste, landschaftlich aber auch schönste Strecke führte über den Alten Postweg aus Deinstedt zunächst zur Hohen Lucht hinauf; keine bedeutende Steigung, kaum ein
Hügel zu nennen, doch für den Anfang mühsam genug, besonders bei Gegenwind. Am Wegrand stand eine alte Eiche, die man auch zu zweit nicht hätte umarmen können.
Dann kamen wir an der meist leeren Weide von Kalimba, der Stute unserer Nachbarn, vorbei und schließlich, als dritter Besonderheit, an einem guten Dutzend riesiger Baumstämme, die seit
dem letzten Herbst am Straßenrand auf ihren Abtransport warteten und deren Schnittflächen mit blauer Farbe markiert waren. Lange hatte ich sie für Eichen gehalten, bis die Stämme plötzlich selbst zeigten,
dass es Pappeln seien. Denn trotz der groben, rissigen Rinde trieben alle Stämme im Frühling neu aus, kleideten ihre alten, grauen, längst tot geglaubten Körper vor ihrer Fahrt zum Sägewerk noch einmal mit
dem Schmuck vieler neuer Zweiglein und rötlich-grünen Laubs und bekundeten ihren ungebeugten Lebenswillen in anrührender Weise. Wie sollte ich nicht an dieses Grün denken, als ich später einmal im
Buch Hiob las: »Denn ein Baum hat Hoffnung, auch wenn er abgehauen ist; er kann wieder ausschlagen, und seine Schößlinge bleiben nicht aus. Ob seine Wurzel in der Erde alt wird und sein Stumpf im Boden
erstirbt, so grünt er doch wieder vom Geruch des Wassers und treibt Zweige wie eine junge Pflanze.«?
Kaum noch zu bemerken war, dass entlang dieser Strecke im vergangenen Jahr Erdgasleitungen und Stromkabel verlegt worden waren, so schnell hatten Gras, Blumen und Stauden das Erdreich auf
den zugeschütteten Gräben wieder bedeckt. Die Arbeiten waren rasch vorangeschritten, und bald waren auch alle Strommasten und Hochleitungen entfernt. Die Türmchen aus Backstein, an denen sich die Leitungen
verteilt hatten, waren abgerissen worden (leider auch jenes nahe bei unserem Haus) und durch wetterfeste dunkelgrüne gerippte Kästen ersetzt, die etwa so groß wie ein Personenauto waren.
Die Anhöhe, auf die wir schließlich hinaufgestrampelt waren, hieß, wie gesagt, die Hohe Lucht. »Lucht« bezeichnet, wie mich ein Lexikon unterrichtet, im Norddeutschen einen
»Bodenraum« unter dem Dach. Doch ist das Wort auch mit »Luft« verwandt, und tatsächlich sah ich in der Umgebung auch einmal den Straßennamen »Hohe Luft«.
Hier oben gab es eine Militärstation, deren Aufgabe uns weder bekannt war noch interessierte, die uns aber immer wieder zu Witzeleien reizte. Die Anlage war nämlich mit überhängenden
Zäunen und fünffachem Stacheldraht gesichert, als gelte es nichts Geringeres als die geheim erfolgte Landung der Außerirdischen zu vertuschen, und man glaubte, jeden Augenblick müssten Gestalten wie
die Teletubbies aus dem Innern der kegelstumpfförmigen und manchmal mit kleinen geodätischen Domen gekrönten Hügelchen kriechen und die künstlich begrünten Erdwälle bevölkern. Winke-Winke!
Warnschilder verboten streng das Zelten, Feuermachen und Rauchen im Umkreis von fünfzig Metern, untersagten ebenso das Fotografieren, Anfertigen von Zeichnungen, Skizzen oder
sonstigen Abbildungen und drohten unter Berufung auf Paragraphen und unverständliche Abkürzungen mit Bußen bis zehntausend Mark bei Zuwiderhandlungen. Öfters sah man auf dem Gelände Wachen, die
Schäferhunde abrichteten, und Lautsprecherdurchsagen machten ihrem Namen alle Ehre, denn kilometerweit bliesen sie etwas ins Feld hinaus, von dem ich nie ein Wort habe verstehen können – zweifellos
verschlüsselte Nachrichten, um feindliche Spione irrezuleiten. Bald wurde die kleine Garnison aber aufgegeben, und man sah nurmehr vereinzelte Schafe dort grasen. Die Schilder wurden entfernt, und nach und nach
geriet alles in Vergessenheit.
Unser Weg führte zum Glück nun wieder abwärts, und wir erreichten selbst dann hohe Geschwindigkeiten, wenn wir uns wie auf einer schiefen Ebene den Hügel einfach hinunterrollen
ließen. Dann kam eine unübersichtliche Rechtskurve, deretwegen man nicht allzu schnell werden durfte, und bald war links nach Ölkershusen abzubiegen, wenn wir uns Zeit nehmen und den langen, »schönen« Weg
nehmen wollten. (Bogen wir jedoch nach rechts ab, war die Strecke erheblich kürzer, und man gelangte über Rohr auf dem kürzesten Weg wieder nach Deinstedt zurück.)
An dieser Stelle waren uns einst einige Kühe mitten auf der Straße entgegen gekommen, denen ein schlecht verschlossenes Weidezauntor die Möglichkeit zu einem Ausflug gegönnt hatte.
Doch die Guten kamen nicht weit. In der Ferne liefen bereits einige Leute hinter ihnen her, um sie einzufangen. Und als die Kühe nun auch noch uns von vorne auf den Rädern auf sich zukommen sahen, machten sie
freiwillig kehrt und strebten resigniert zu ihrer Weide zurück, wo sie von einem jungen Mann in Empfang genommen wurden. Er schloss das Gatter hinter ihnen, bedankte sich für unseren kaum nennenswerten Beistand
und meinte, er wisse gar nicht, wem die Kühe gehörten, denn sie hätten ja keine Arschmarken. Seine seien es jedenfalls nicht, und man sei nur zufällig aufmerksam geworden. Man wünschte sich noch einen schönen
Tag, und wir setzten unsere Fahrt fort.
Als ich einmal mit Jana an dieser Stelle vorbeigekommen war, hatten wir auf einer Wiese unweit des Gatters Rast gemacht, Binsengras in einem Graben gepflückt und uns einen Apfel
geteilt. Dann gab es ein Kaugummi. Es war ein warmer, sonniger Tag, doch zogen immer wieder einzelne weiße Wolken an der Sonne vorüber und warfen mächtige Schatteninseln am Boden. Schon standen wir selbst in
einer solchen, während rings um uns die Sonne schien. Dann sahen wir das Licht rasch über die Felder nahen, bis es uns erreichte und wir nun auch wieder in der Sonne standen. Dieser Vorgang wiederholte sich
mehrmals zu unserem Vergnügen.
Mitten in Ölkershusen, einer Siedlung aus nur vier oder fünf Gehöften, bogen wir – nun wieder Jutta und ich – bei der Bushaltestelle scharf nach rechts ab, und die
schmale asphaltierte Straße, die Hohenfelder Straße heißt, stieg an.
Wenig später nahmen wir an einem unter alten Eichen gelegenen Hof, vor dem sich oft eine Katze putzte, die Abzweigung nach rechts, nach Westen, während sich die asphaltierte
Hauptstraße nach links in Richtung Ohrel fortsetzte. Der mit Feldsteinen gepflasterte Weg führte nun aus dem düsteren Eichenhag heraus, und bald waren wir wieder im freien Feld.
*
Hier begann jene Strecke, die wir übereinstimmend als die schönste in dieser Gegend bezeichneten und die vielleicht auch den entscheidenden Anstoß zu den vorliegenden Aufzeichnungen
gab.
Für jemanden, der zufällig des Wegs gekommen wäre, hätte diese Landschaft wohl kaum sonderlich Sehenswertes aufzuweisen gehabt. Nichts bot sich dem verwöhnten, nach Zielen und
Höhepunkten trachtenden Auge des Touristen. Tief und unbefangen konnte man in ein talartiges Land hinaussehen und den Blick schweifen lassen über viele große Wiesen und Weiden, in deren hellem Grün
es immer wieder kleine dunkle Fleckchen von Bäumen, ja von Waldung gab. Begünstigt wurde diese Aussicht dadurch, dass unser Weg nicht auf der Sohle des Tales verlief, sondern eher auf halber Höhe. Das
Gefälle war indes gering, und es sah aus, als habe eine sanfte, riesige Woge die gesamte Landschaft erfasst.
Der Weg, auf dem wir fuhren, war einst asphaltiert gewesen, doch war diese Decke durch Hitze, Frost und Alter fast überall zerbrochen und von den schweren Reifen
der landwirtschaftlichen Fahrzeuge zermahlen worden. Später gab es für eine längere Strecke sogar ein Pflaster aus gegossenen Verbundsteinen, doch auch dieser Belag hatte gelitten und war durch die Wurzeln
naher Bäume wellig geworden. Gras wucherte zwischen den Steinen und bildete einen grünen Mittelstreifen zwischen den Fahrspuren. Doch auch Löwenzahn, Schafgarbe, Giersch, Johanniskraut sowie Rainfarn und
einiges uns Unbekannte wuchsen hier. Da es den Pflanzen aber an Platz und wohl auch an Wasser mangelte, blieben sie klein und kümmerten. Vielleicht war dieser Weg früher auch die Hauptverkehrsstraße zwischen
Ohrel und Rohr gewesen, die erst nach dem Ausbau einer neuen, über Ölkershusen geleiteten Straße der Vernachlässigung anheimgefallen war.
Selbst wenn nicht zu übersehen war, dass man sich inmitten eines landwirtschaftlich stark genutzten Gebietes befand, hatte doch alles die harmonische Ruhe und Ausgeglichenheit einer
großzügigen und weitläufigen Parklandschaft. Hierzu trug besonders der Umstand bei, dass man, wohin man auch blickte, nirgends mehr eine menschliche Behausung entdecken konnte, weder ein Dorf noch Gehöft, selbst
keine Kirchturmspitze. Auch Hochspannungs- oder Telefonleitungen fehlten, und die nächste von Autos befahrene Straße lag so weit ab, dass nichts von ihr zu sehen oder zu hören war. Unerwartet trat Stille ein.
Die Zeit schien stehen geblieben zu sein, und ich wusste nicht, woran ich noch hätte ermessen sollen, ob ich mich in unserem Jahrhundert und nicht im vorigen oder vorvorigen oder einem
noch früheren befand. Wäre plötzlich eine Postkutsche hinter einer Biegung erschienen oder die drei Musketiere wären hüteschwenkend vorbeigaloppiert, hätte mich das vielleicht nicht einmal sonderlich
überrascht. Und doch – es gab die Elektrozäune und auch Zäune aus Stacheldraht, beides Erfindungen des modernen Menschen und untrügliche Zeichen der Zivilisation, und nur der Umstand, dass sie so
ausgedehnte Weideflächen umschlossen, nahm ihnen einen Teil ihrer Gefährlichkeit und Bedeutung, ja ließ sie mitunter vergessen.
Es war gleichermaßen das Gefühl von Einsamkeit und Geborgenheit, von Abstand zu den Dingen des normalen Lebens wie der Möglichkeit des Aufgehens in einer Landschaft ohne Ende, die
so einladend, geschlossen und geheimnisvoll wie ein großer Garten war, in dem man sich ungesehen aufhalten konnte. An manchen Tagen hatte alles seinen unverwechselbaren Zauber: das Licht, die Luft, die Töne,
die Farben; und man glaubte, man habe einen Raum betreten, in dem, wie in der Zone von Tarkowskis Stalker, die Gesetze der Normalität nicht mehr gelten und man ständig auf Unberechenbares gefasst sein
muss. Wie man sieht, tue ich mich schwer mit der Beschreibung, und natürlich übertreibe ich ein wenig. Doch ein Körnchen Wahrheit steckt in allem Gesagten.
Scheue und bisweilen auch seltene Tiere schienen diese Ruhe, diese Ungestörtheit gleich uns zu suchen, denn häufig trafen wir auf ein Kaninchen oder einen Hasen, die sich an einem
Haufen gammeliger Rüben zu schaffen machten, auf ein paar Rebhühner (oder waren es Wachteln?), die vor uns aufflatterten, so dass wir gleich ihnen erschraken, oder bisweilen selbst einen Fasan.
Und unter den Rufen der Vögel gab es immer wieder solche, die wir noch nirgendwo gehört hatten und die wir keiner der uns bekannten Arten zuordnen konnten. Ansonsten hörten und sahen
wir Möwen und Krähen, Lerchen und Tauben, schwarzweiße Bach- und schwarzgelbe Schafstelzen, um nur die auffälligeren zu nennen. Und Kuckucksrufe gab es im Frühjahr. Raubvögel kreisten über den Weiden
oder saßen auf frei stehenden hohen Bäumen, Eichen zumeist, von wo aus sie einen guten Rundblick hatten. Nur einmal konnte ich beobachteten, wie einer in so steilem Sturzflug nach unten schoss und dann in den
Furchen eines Feldes verschwand, dass es aussah, als falle ein Stein vom Himmel und werde vom Erdboden verschlungen.
Auch war dies der beste Platz, ein Reh zu sehen. Meist waren es aber gleich mehrere, die dann in hohen Sprüngen über Zäune und Wassergräben setzten und die man dann weit, weit hin mit
den Augen verfolgen konnte. Wir hielten oft an, um ihrem Lauf zuzusehen, und manchmal blieben auch sie eine Weile stehen und drehten sich nach uns um und warteten, ob wir ihnen folgten oder was sonst geschehe,
bevor sie weitereilten, kleiner und kleiner wurden und schließlich in einer Senke oder einem Gehölz verschwanden.
Zwei Pferde, an deren Koppel wir vorbei kamen, ließen sich die Nüstern streicheln und den Hals klopfen. Doch als der Winter vorüber war, waren sie verschwunden, und Kühe
lagen auf ihrer Weide.
Kühen, auf deren Milcherzeugung die Landwirtschaft weitgehend abgestimmt war, begegnete man indes ständig in den wärmeren Monaten des Jahres. Die Bauern hatten ihnen ausgediente
Badewannen oder aufgeschweißte Heizöltanks als Tränken eingerichtet; andere verwendeten besondere Wasserfässer, aus denen sich die klugen Tiere durch Niederdrücken eines Hebels mit dem Maul ihre Trinkschüsseln
selbst nachfüllen konnten. Auch die Kühe waren dankbar für jede Aufmerksamkeit, strömten manchmal in großer Zahl herbei, sobald wir an ihrem Zaun anhielten, und blickten uns erwartungsvoll an. Wir lobten sie
natürlich, redeten ihnen gut zu und scherzten sogar manchmal mit ihnen, was sie aber stets mit stoischer Ruhe hinnahmen. »Lass sie man schnacken …!«, mochten sie denken.
Aus der Ferne und wie aus weiter Vergangenheit tönte das Signalhorn der Eisenbahn herüber. Einst hatte sie auch Personen befördert, heute diente sie nur mehr dem Güterverkehr. Da es
viele unbeschrankte Übergänge gab, musste der Fahrer sein schrilles Warnhorn ständig betätigen. Einmal nahm der Wind seinen Ruf so unerwartet laut mit sich, dass die Kühe erschrocken aufsprangen und die Flucht
ergriffen.
Die Ruhe, die uns hier – von solchen kleinen Ausnahmen abgesehen – umgab, ließ die wenigen Klänge und Geräusche umso klarer hervortreten, ähnlich wie viele Farben auf
dunklem Grund, welcher das Auge nicht blendet, am kräftigsten und reinsten leuchten. Selbst die Fahrräder bekamen ihre ganz eigenen Stimmen. Da gab es das Knirschen der Reifen auf dem mit Steinchen bedeckten Weg,
von denen ab und zu eines gegen die Schutzbleche sprang und aufmerken ließ; oder die Kette von Juttas Rad, die am Hinterrad über zwei kleine Zahnräder lief und hier ein mechanisch klickendes Geräusch von
leiser maschinenhafter Präzision erzeugte. Hinzu kam das kurze scharfe Einrasten der Gangschaltungen, die wir auf diesem Abschnitt des Weges allerdings selten bedienten, denn es gab keine nennenswerten Steigungen
oder Gefälle.
Die Federung meines Sattels ächzte manchmal unter meiner Last, und holpriger Weg, wie etwa das Feldsteinpflaster, das aus dem Eichenhag führte, ließ meine Klingel kurz anschlagen und
die Schutzbleche leise scheppern, während die kleine Werkzeugtasche unter Juttas Sitz klapperte. Auf diesem kurzen Stück Wegs sangen wir manchmal einen langen Ton, auf den sich die Unebenheiten der Straße
dann gleichermaßen übertrugen, eine Übung, bei der wir immer an Jana dachten, die zu solcherlei Späßen stets aufgelegt war.
Wenige hundert Meter, bevor man Rohr erreichte, wechselte der Straßenbelag zu zermahlenem Glas. Diese Art des Schotter- oder Rollsplitt-Ersatzes ist nicht unüblich in dieser
Gegend, und auch in Deinstedt, etwa am Friedhof entlang oder schon außerhalb des Dorfes auf dem Bachweg gibt es ihn. Hatte ich ursprünglich geglaubt, es sei unmöglich, diese Scherben unbeschadet mit dem Rad zu
befahren, sah ich doch bald ein, dass es sehr wohl anging. Das oft milchig-trübe Glas schien nämlich in einem besonderen Verfahren so lange und tüchtig durchgemischt und -geschüttelt worden zu sein, bis alle
scharfen Kanten abgestumpft waren und für die Reifen keine Gefahr mehr bestand.
Nachdem meine ursprünglichen Bedenken sich wieder zerstreut hatten, entwickelten diese Scherben ihren eigenen Reiz. Gemäß ihrer Herkunft waren die meisten flaschengrün, braun oder
weiß, doch gab es gelegentlich auch solche in leuchtendem Kobaltblau. Mehrfach sah ich zwischen ihnen auch Bruchstückchen von Porzellan oder Keramik, die Henkel von Tassen oder kleine Teile bunt gemusterter
Fliesen, und selbstverständlich immer wieder rote Ziegel- und Backsteinstückchen. Und dann gab es auch hin und wieder Metall in dem Gemenge, allerdings eher andernorts als gerade hier: eine
Schraubenmutter, eine verrostete Unterlegscheibe, eine Haarnadel, ein Auswuchtblei, den Beschlag eines Schuhabsatzes, einen zerbrochenen Schlüssel, mitunter eine kleine Münze und anderes mehr.
Diesen Glasschotter – ich kenne nicht die offizielle Bezeichnung – beschreibe ich nur darum so ausführlich, weil er einmal an einem späten Nachmittag, als ich zusammen
mit Jana hier entlangfuhr, für einen ganz außergewöhnlichen Anblick gesorgt hatte. Wir fuhren der Sonne entgegen, die schon tiefer stand (morgens auf den Fahrten mit Jutta hatten wir sie hier im Rücken),
und im Gegenlicht lag plötzlich der schnurgerade Weg wie mit Brillanten und Juwelen übersät vor uns. Eine Straße entstand, von der man in Märchen gehört haben mag, wie sie nur von Feen und Elfen befahren
werden kann oder wie sie vielleicht nächtens, reserviert für die Engelchen, als traumhafte Fährte von Sternenstaub sich über das Zelt des Himmels spannt und zu jener Pforte führt, an der Petrus die
Ankömmlinge begrüßt oder zurückweist. Überall gleißte und glitzerte es. Und da wir uns bewegten, funkelte alles noch mehr, denn die kleinen Lichtblitze wechselten ständig ihren Ort.
Noch eine andere Stelle ist erwähnenswert, bevor wir die Abzweigung nach Rohr erreichten. Beinahe verdeckt vom Laub der Bäume und des Unterholzes gab es nämlich mehrere
große Feldsteinhaufen, kaum zu sehen von der Straße aus. Die Steine, einige zentnerschwere Giganten, die meisten aber bequem in der Hand zu halten, waren von den Bauern, denen sie bei der Bestellung
des Feldes hinderlich waren, zusammengetragen worden, und man hatte einen Platz für ihre Lagerung ausgesucht, an dem die Arbeit ohnehin zu beschwerlich war und Wurzelwerk das Pflügen störte.
Auch diese Steinhügel lernte ich durch Ausfahrten mit Jana besser kennen, da sie gerne zumindest ein kleines Picknick einlegte und auf solchen Steinen herumkletterte, um
Ausschau zu halten nach einem geeigneten Sitz- und Lagerplatz. Ich hatte dann zur Erfrischung eine Flasche Wasser, einen Apfel, eine Banane oder ein Würstchen mitgenommen, immer aber auch ein paar Süßigkeiten, an
denen Jana so sehr lag, dass sie bereits hinter dem Deinstedter Ortsschild eine erste Rast und Erfrischung vorschlug.
Rohr war nach Ölkershusen das zweite Dörfchen, durch das wir fuhren, im Grunde auch nur eine lockere Ansammlung weniger Höfe und vielleicht besser ein Weiler zu nennen. Einige
Häuser standen mitten im Wald unter hohen alten Buchen, Kastanien und Eichen. Dies bot zwar Schutz vor den heftigen Stürmen, die diese Gegend mitunter heimsuchten, doch durch den Schatten der Baumriesen
erhielt alles ein etwas dunkles, ja düsteres Gesicht.
An der Kurve des Ortseingangs standen mehrere Zwetschgenbäume, von denen ich manchmal, da sie im Herbst niemand aberntete, zwei oder drei pflückte und aß. Die Lage der Bäume war
ideal, und die Früchte schmeckten köstlich süß. Hier gab es auch kleinere Weiden mit schwarzen Schafen, Ziegen, einem Bock und Hühnern, und weiter hinten musste es sogar, wenngleich wir ihn nie zu sehen
bekamen, einen Pfau geben. Wir hörten seinen lauten, klagenden Ruf weithin durch den Wald dringen, dessen Bäume eine Halligkeit wie die eines großen Saals oder einer Kirche schufen.
*
Kamen wir aus dem Rohrer Wäldchen heraus, hatte uns die Zivilisation wieder eingeholt. Zwar fuhren wir bis nach Deinstedt hinein noch immer zwischen Feldern, Bäumen und Weiden,
doch mussten wir jetzt mit zunehmendem Verkehr rechnen.
Die Strecke, die über einen ansehnlichen Hügel, einen der höchsten in der näheren Umgebung, verlief, war nicht ganz ungefährlich. Immer wieder gab es Fahrer beiderlei Geschlechts
(sogenannte Idioten), die gemessen an der Breite des Sträßchens viel zu riskant fuhren und die Kurven schnitten, obwohl dies auch der Weg für die Schulbusse und die üblichen breiten und langsamen Fahrzeuge
der Landwirtschaft war.
Die Straßenränder wurden ein- oder zweimal im Jahr mit einer betäubend lauten Spezialmaschine von allem, was auf dem Randstreifen wuchs und wucherte, befreit, eine Prozedur, die in
einem gnadenlosen Abfräsen der obersten Erdkrume auf einer Breite von eineinhalb Metern bestand und der nicht nur das letzte grüne Hälmchen einschließlich der hier beheimateten Tierwelt, sondern
auch mancher im hohen Gras verborgene Leitpfosten zum Opfer fiel, welcher der Aufmerksamkeit des Fahrers entgangen war. Auch die vielen Gräben entlang der Straßen wurden periodisch von
Straßenarbeitern mit kleinen Baggern gesäubert, so dass das Regenwasser von den Felder freien Abfluss bekam; Buschwerk und überhängende Bäume wurden zuvor gestutzt, um für Platz und gute Sicht bei diesen
Arbeiten zu sorgen.
War die Kuppe des letzten Hügels überwunden, so war auch die letzte Hürde unserer Ausfahrt genommen, und wir konnten uns nach Deinstedt bis vor unsere Haustür hinunterrollen lassen,
eine Stretta, auf der wir oft die höchsten Geschwindigkeiten erreichten.
Zu Hause blieb mein Fahrrad im Freien stehen, um Jana später damit von der Bushaltestelle abzuholen, denn ihr Tornister passte gerade in seinen Gepäckkorb. Jutta schob ihr Rad in den
Keller hinunter und kam über die Kellertreppe nach oben oder nahm ihren Weg durch den Garten und die meist unverschlossene Hintertür zur Küche. Der Wasserkessel wurde aufgefüllt und auf den Herd gesetzt, Kanne
und Filteraufsatz wurden bereitgestellt, und eine Viertelstunde später gab es eine erste Tasse Kaffee. Das Tagewerk konnte beginnen.
Deinstedt, Mai – Juli 2000
Erste Eingabe ins Internet: Samstag, 11. August 2007
Letzte Änderung: Dienstag, 3. Mai 2016
© 2007–2016 by Herbert Henck
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