Die Beschämung
von
Herbert Henck
Als ich wieder einmal umzog, ging ich aufs Land in ein Haus, das ich mit Hilfe zweier Kredite hatte erwerben können. Es war Sommer, die Vögel zwitscherten
in dem Garten, und an den Bäumen reifte Obst. Die Sonne schien, der Himmel war blau, es war warm und ruhig. Ich konnte mir für die kommenden Jahre nichts Besseres wünschen.
In dieser Umgebung sprach ich eine Weile mit einem der älteren, mir unbekannten Transportarbeiter, einem Arbeiter aus dem Kölner Raum, der meinen Umzug mit
ins Werk gesetzt hatte. Tagein, tagaus verpackte er die Dinge anderer und trug ihre Lasten – von einer Wohnung in einen Wagen, und nach einer kürzeren oder längeren Fahrt von dem Wagen in eine neue
Wohnung. Er sehnte sich offenbar nach diesem allem, was das Glück mir nun beschieden hatte, nichts Großartiges oder Vornehmes, aber doch etwas Preiswertes, Geräumiges und Selbständiges: ein eigenes Haus mit Garten
in einem kleinen Dorf, Ungestörtheit und frische Luft, ein bescheidenes Glück und geringen Wohlstand, Spaziergänge mit einem Hund und einfache Gespräche. Der Mann nannte zwar keine Details, was ihm gefiel, doch
deutlich gab er zu erkennen, dass ich mit meinem Umzug aus der Großstadt aufs Land das Richtige getan hatte, zumindest nach seiner Meinung.
Ich sagte, um sein Lob vielleicht noch etwas auszudehnen, dies alles sei mir ja nicht in den Schoß gefallen, sondern dass ich hart dafür hätte arbeiten
müssen. Worauf er antwortete, was ich denn glaube, dass er getan habe? Und ob er vielleicht nicht hart gearbeitet habe? Es war eigentlich keine herausfordernde, sondern eher eine bekümmerte Bemerkung, die er machte, mehr eine Frage, die er sich vielleicht schon selbst längst gestellt und auf die er keine Antwort gefunden hatte. Auch die Erfolglosigkeit seiner Bemühungen kam darin zum Ausdruck.
Aber ich fand auch keine richtige Antwort auf das, was er mich nun fragte, und so verstummte ich nach und nach. Ein Schatten war in meinen sonnigen Garten
gefallen, und eine vielleicht beiläufige, doch unwiderlegbare Feststellung hatte das Lichte verdunkelt. Die Frage, welche das Schicksal der Menschen verglich, ging mir nicht mehr aus dem Sinn, und ich musste noch
Jahrzehnte später an sie denken, denn immer wieder stellte sie sich von Neuem; nicht ständig, aber doch manchmal.
Viel mehr kam hier zum Ausdruck als das, was man ein Wohlergehen nennen könnte. Es war die Ungnade, die Unbarmherzigkeit des Schicksals, das nicht den
Fleißigen belohnte, sondern die Willkür des Geschicks kam zur Sprache, das seine Gaben blind für den Verdienst, ohne Ansehen der Person und gleichsam zufällig verteilte. Dieses war die jedem sichtbare Grundlage
unseres Lebens. Während harte Arbeit dem einen als unabdingbare Voraussetzung jeden Erfolgs erschien, war sie dem anderen genauso selbstverständlich, dessen harte Arbeit aber eben nicht von Erfolg gekrönt war und
manchmal auch gar nicht beachtet wurde. Das Streben kam schließlich zum Erliegen, und man gab erschöpft auf, da es ja doch zu nichts führte.
So erhob sich als Folge die Frage, warum es das eine Mal so, das andere Mal anders sei, und der Sinn des Lebens kam in diesen kurzen Worten zur
Sprache. Und war es nicht das Materielle, so trat mit der Zeit und den Jahren die Gesundheit hervor, denn Gesundheit und Krankheit schienen ebenso nach Gutdünken verteilt, und was dem einen zukam, war dem andern
verwehrt. Glück war ein sorgloses Leben, zu dem etwas Wohlstand und Gesundheit gehörten. Denn was könnte man mit Wohlstand ohne Gesundheit anfangen oder mit Gesundheit ohne Wohlstand? Wer nicht beides besaß, konnte kaum zufrieden sein mit sich und der Welt. Und statt wenigstens einem zum Durchbruch zu verhelfen, blieb letztlich beides auf der Strecke.
Bis heute habe ich keine Antwort gefunden, warum der eine von Natur aus verwöhnt, der andere benachteiligt ist, der eine schon reich zur Welt kommt, der
andere aber gar nichts oder allein Krankheiten und bestenfalls Schulden erbt, der eine seine Begabung ausbauen kann, der andere sie nurmehr vergehen sieht. Ich weiß es noch immer nicht, warum es so eingerichtet
ist, und es wird für uns alle wohl auch so bleiben, wie es mit oder ohne Absicht ist.
hauptsächlich März 2015
Erste Eingabe ins Internet: 4. April 2015
Letzte Änderung: Mittwoch, 4. Mai 2016
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