Romreise
1. bis 5. Oktober 1988
von
Herbert Henck
Anreise
Sonnabend, 1. Oktober 1988
Morgens um halb acht klingelt der Wecker. Die Koffer, noch in der Nacht gepackt, stehen bereit, ein erster Kaffee ist getrunken. Kurz nach neun kommt das Taxi und bringt mich zum
S-Bahnhof in Köln-Dellbrück. Um 9.37 Uhr erreiche ich den Kölner Hauptbahnhof und gehe, wie oft vor Reisen, wenn Zeit bleibt, in die Buchhandlung am Haupteingang.
Pünktlich um zwei Minuten vor neun fährt der Intercity, der mich zum Frankfurter Flughafen bringt, aus dem Bahnhof. Mein Platz ist reserviert, im Großraumwagen 2. Klasse, im
Nichtraucherabteil, am Fenster, in Fahrtrichtung sogar.
Bald setzt sich ein Mann mittleren Alters neben mich. Er ist schwarz gekleidet und hat am Anzugrevers ein kleines Kreuz stecken. Seiner Aktentasche entnimmt er nicht das erwartete
Brevier, sondern ein Fläschchen Sekt, öffnet es, kämpft mit dem Schaum, kauft, als der Servicewagen kommt, eine Bockwurst und Kaffee und liest einen Kriminalroman. Wir kommen nicht ins Gespräch.
Im Frankfurter Flughafen erwarten mich lange Schlangen vor den Abfertigungs-Schaltern; Berge von Gepäck stauen sich, wohin man sieht. Ich befürchte Schlimmes. Ich frage am
Informationstisch nach meiner Fluggesellschaft und werde zur Schlange der »Alitalia« verwiesen. Nach langem Warten teilt man mir mit, mein Flug habe zwei Stunden Verspätung, für die wartenden Passagiere werde
aber im Transitrestaurant »Leonardo da Vinci« ein Gratis-Mittagessen bereitgehalten. Das Fräulein am Computer schreibt einen Betrag von 35 DM auf den Rand meiner Bordkarte, um sie als Gutschein zu
kennzeichnen, und ich mache mich auf den Weg ins Restaurant. Es befindet sich schon hinter der Passkontrolle, und auf einer Rolltreppe geht es zum ersten Stock hinauf.
Man ist vorbereitet auf die Rompassagiere mit ihren Gutscheinen. In einer Ecke hat man Tische in langer Reihe formiert, militärisch steht alles in Reih und Glied: Bestecke, Servietten,
Aschenbecher und Biergläser, letztere mit der Öffnung nach unten schnurgerade ausgerichtet. Zwei gut bestückte Getränkewagen mit Bier und Limonade erwarten den Ansturm der Gäste. Ich bin einer der ersten, doch
füllen sich die Tische während meiner Mahlzeit schnell.
Kaum habe ich Platz genommen, kommt unaufgefordert als Eröffnung des Menus eine Tasse Tomatensuppe. Ich lehne ab, da ich nicht sicher bin, dass nicht eine Fleischbrühe die
Suppengrundlage ist und ich Versicherungen von Kellnern in diesen Fragen selten traue. Ein anderer Kellner bietet erneut Tomatensuppe an. Einem dritten erkläre ich meine speziellen vegetarischen Wünsche und
muss mir zunächst sagen lassen, dass man auf so etwas nicht eingerichtet sei. Für alle Gäste gebe es Steak, und ich bekäme dann eben »gar nichts«.
Nach Rückfragen bei wieder anderen Kellnern und in der Küche erhalte ich aber schließlich doch eine vegetarische Mahlzeit – Gemüsecurry und Reis. Das Essen schmeckt mir, und ich
trinke eine Flasche Coca-Cola. Kaffee ist auf Nachfrage nicht für uns vorgesehen – fünfunddreißig Mark lassen wenig Spielraum.
Fern der Haupthalle finde ich in einem Seitengang eine ruhige Bank. Keine unmittelbaren Nachbarn, kein peinliches Gegenüber und verstecktes Beobachten, keine Musik und keine lauten
Leute. Ich übe mich in der Bedienung eines neuen Taschenrechners, den ich mir geliehen habe. Das Modell ist eigens für Auslandsreisen erdacht, verfügt über verschiedene Zeitzonen, und in einem besonderen
Speicher lassen sich Wechselkurse bequem umrechnen. Ferner gibt es einen Wecker, Datumsanzeige und einen Taschenrechner. Mit allen Funktionen spiele ich, bis ich sie mir eingeprägt habe.
Anlass meiner Reise ist eine Konzerteinladung des über mehrere Großstädte Italiens verteilten Festivals Eco & Narciso (»Echo und Narziss«), das in diesem Jahr erstmals stattfand. Bei der Programmkonzeption war man bestrebt gewesen, Klassiker der modernen Musik jungen Komponisten gegenüberzustellen, wobei eine gewisse Geistesverwandtschaft beider die Brücke bilden sollte.
Mit Roberto Doati, der zusammen mit Mario Messinis für die Programmgestaltung zuständig war, hatte ich mich auf John Cages Music of Changes als Hauptwerk eines Konzertabends
geeinigt. Diesem Schlüsselwerk der Zufallskomposition von 1951 sollte Walter Zimmermanns 1982 geschriebene Abgeschiedenheit vorangehen, ein stets leises Stück, das auf den mystischen Erfahrungen Meister
Eckharts gründete. Langsam wiederholte Töne und Zellen verschoben sich immer wieder neu gegeneinander und riefen ein Gefühl von Konzentration und stehender Zeit hervor.
Die fünftägige Dauer der Reise erklärte sich aus der Wahrnehmung eines Spartarifs der Fluggesellschaft, der am Zielort einen Wochenend-Aufenthalt zwischen Abreise und Rückkehr
notwendig machte.
Meine Maschine, die auch aus Rom kommt, trifft schließlich ein, und bald wird mein Flug aufgerufen. Wir starten um 17.45 Uhr mit über vierstündiger Verspätung.
Der Flug ist ruhig. Ich lese Thomas Bernhards Ein Kind zu Ende. Mein über das Reisebüro vorbestelltes vegetarisches Essen wird gebracht: Rohkostsalate, ein Brötchen und rote
Trauben. Ein Fläschchen Rotwein biete ich, ohne Erfolg, einer Nachbarin an – auch sie trinkt keinen Alkohol.
In Rom geht die Abfertigung durch Pass- und Zollbeamte zügig vonstatten. Wegen der Verspätung des Flugs versuche ich im Hotel anzurufen. Es kommt aber keine Verbindung zustande, und ich
verliere 600 Lire in dem Münzautomaten. Ich gehe zu einem anderen Apparat, doch jetzt ist die Nummer besetzt, und ich erhalte mein Geld zurück.
Für 500 Lire (ca. 70 Pf.) kaufe ich einen Fahrschein zum Zentrum, und wenig später sitze ich im Bus in Richtung Rom, den einen Koffer auf den Knien, den andern auf dem freien
Platz neben mir. Weit draußen auf einem Feld brennt ein großes Feuer, ein Bild wie aus Fellinis Roma.
Nach Erreichen der Stadt fahren wir erst an der Kleinen Pyramide, wenig später am Kolosseum vorbei (beide sind hell erleuchtet), und nach halbstündiger Fahrt halten wir an der Stazione
Termini, dem Hauptbahnhof Roms. Vor dem Bus bieten Taxifahrer ihre Dienste an, und ich überlasse einem von ihnen mein Gepäck. Er lädt beide Koffer, mit gutem Grund, wie sich später zeigt, auf den vorderen
Sitz neben sich, während ich wie gewöhnlich hinten einsteige.
Die Fahrt dauert kaum zehn Minuten, und nach vergeblicher Suche in vielerlei engen Winkeln und Gässchen nach der Via Margutta, in der mein Hotel liegen soll, habe ich 20.000 Lire zu
bezahlen, was etwa 27 Mark sind. Ich werde offenbar betrogen und vermute, dass der Fahrer das Taxometer, das von meinen Koffern verdeckt war, bei Fahrtbeginn nicht zurückgestellt hatte.
Ich mache gute Miene zum bösen Spiel. Mangelnde Sprachkenntnisse und Müdigkeit halten mich von Reklamationen ab. Ich zahle das Verlangte, nehme meine Koffer, die durch das große Paket
der Cage-Noten besonders schwer sind, und gehe zu Fuß, wie von dem Taxifahrer bedeutet, in Richtung der Via Margutta. Ein Reklameschild überspannt das Gässchen: »Ristorante Vegetariano«. Hierher muss ich
zurückfinden; ein vegetarisches Restaurant in solcher Nähe zur Unterkunft käme wie gerufen.
Bei der gesuchten Hausnummer angekommen wandelt sich das erwartete Hotel zu einer Pension im ersten Obergeschoss. Beides stimmt mich feindlich. Ich misstraue allen Pensionen, zumal
solchen in höheren Etagen, befürchte Kontrolle und eine zu familiäre Atmosphäre. Ein schönes, großes Treppenhaus empfängt den Besucher, ein altmodischer Lift mit Scherengittertür bringt mich nach oben. Dann
werde ich Gast der Pension »Le Forte«.
Das Zimmer ist eng, dürftig möbliert und etwas unsauber; ich bin sicher, dass es sich um eine Nische handelte, die einst ein Umbau dem Hausflur abgewann. Die verschnittene Form des
Kämmerchens und sein ungewöhnlicher Marmorfußboden reden eine deutliche Sprache. Es mag an die vier Meter hoch sein, die Wände sind mit goldgelbem Stoff bespannt. In einem früheren Durchgang ist eine
Kleiderstange befestigt, auf der Kleiderbügel hängen. Ein Vorhang teilt diesen »Schrank« zur Diele ab, deren Abmessungen gerade noch ein Öffnen der Zimmertüre erlauben und die von einer Neonröhre schwach
erhellt wird. Ein Wandschrank dient der Aufnahme der Wäsche, seine Türen sind von einer Kamin-Attrappe umrahmt.
Hoch über der Tür zu dem winzigen Nebenraum mit Waschbecken, Dusche, Toilette und einem Bidet gibt es – ohne mir erkennbaren Grund – ein Fenster, das mit Läden, wie sie
ansonsten nur außen an Häusern zu finden sind, verschlossen ist. Das Waschbecken ist extrem niedrig, so dass ich mich weit hinunterbeugen muss. Der Spiegel darüber hängt entsprechend tief und schneidet meinen
Kopf ab; größere Distanz verhindert indes ein Schirm aus Plexiglas, der die Dusche zur Tür hin abschließt.
Erster Tag in Rom
Sonntag, 2. Oktober 1988
Der neue Wecker lässt mich im Stich: ich habe die AM- und PM-Tasten verwechselt. Das Frühstück, das erfreulicherweise nur auf dem Zimmer eingenommen werden kann, besteht aus einem
Croissant mit Zuckerguss, einem großen, luftigen Brötchen, zwei Portiönchen mit Erdbeerkonfitüre, einem Kännchen mit hochkonzentriertem Kaffee und warmer Milch zum Verdünnen.
Als ich beim Wirt Kaffee nachbestelle, erklärt er mir, da er mich für einen Amerikaner hält, den Unterschied von amerikanischem und italienischem Kaffee. Als Beschreibung des
italienischen Kaffees reißt er die Augen auf, greift sich ans Herz und flattert mit den Händen. Er mache »nervoso ... !«
Über die Spanische Treppe, die nur zwei Häuserblocks entfernt ist, steige ich zur Villa Medici hinauf, in der das französische Kulturzentrum untergebracht ist, und nach längerem
Disput mit dem Portier in beiderseits schlechtem Französisch darf ich zum Saal hinauf, in dem mein Konzert stattfinden soll. Überall im Haus stoße ich auf Fernsehapparate, die sich provozierend von ihrer antiken
Umgebung abheben und die Teil einer Videoinstallation zu sein scheinen, an der noch gearbeitet wird. Allein auf der etwa sechs Meter hohen Balustrade des Hofes, der noch ins Gebäude einbezogenen ist, zugleich
aber den Übergang zum Park bildet, zähle ich an die sechsundzwanzig Geräte, und später sehe ich immer wieder Techniker in weißen Kitteln, die sich, auf gefährlich hohen Gestellen balancierend, an den Apparaten
zu schaffen machen.
Im Saal steht der Flügel, das größte Modell von Steinway, bereits auf der Bühne. Einstweilen nagelt man jedoch noch Verschalungsbretter an bereitstehende Podeste, auf denen abends ein
Chor stehen soll. Das Hämmern wie das ungenierte Pfeifen der Arbeiter begleitet mein Üben in den nächsten Stunden. Drehe ich mich auf meinem Sitz am Flügel nach rechts, sehe ich aus einem hohen Fenster auf Rom
hinunter, das in voller Mittagssonne liegt. Was für ein Anblick! Rechts erkenne ich die Vatikankuppel, etwas links davon ragt der Engel der Engelsburg gerade aus dem Giebelmeer. Der Himmel ist wolkenfrei, und
ein starker, warmer Wind drängt mir die Fensterflügel entgegen, als ich frische Luft in den Raum lassen will.
Ich arbeite bis drei Uhr und kehre in die Pension zurück, wo ich aus meinen mitgebrachten Beständen Sojawürstchen und Brötchen esse und einen kurzen Mittagsschlaf mache. Dann gehe ich
wieder zur Villa Medici hinauf, um Signora Bartholemy und Signor Canonico zu treffen. Erstere soll mir bei allen Problemen und Fragen behilflich sein, die sich dem Gast stellen, von letzterem erwarte ich einen
größeren Vorschuss auf mein Konzerthonorar in italienischer Währung. Ich treffe jedoch nur den Signor und nehme mein Geld in Empfang.
In den folgenden zwei Stunden mache ich einen Rundgang durch die Straßen. Ich kenne Rom so gut wie gar nicht, fühle mich aber zu Fuß und mit einem Stadtplan in der Tasche
stets am wohlsten in fremden Städten. Ich nehme die Via del Corso in Richtung des Denkmals von Vittorio Emanuele II, biege nach rechts zum Tiber hin ab, sehe die Engelsburg nun aus der Nähe am anderen Ufer und
gehe flussaufwärts, bis ich bei der Ponte Cavour den Kreis zur Via del Corso schließe. Die Via del Corso führt mich dann in Richtung der Piazza del Popolo.
Auf einem kleinen Platz haben mehrere Antiquare ihre Bücher in einfachen Holzkästen ausgestellt. Sogar ein Kasten Musikbücher ist vorhanden. Ein Buch von Guido Guerrini über Busoni,
das 1944 in Florenz erschienen ist, ist fast unbenutzt, und nur die Streifen eines Klarsichtbandes, mit dem ein Vorbesitzer den Plastikumschlag verklebt hatte, haben auf dem Vorsatzpapier dunkle Flecken
hinterlassen. Der Preis beträgt 28.000 Lire (ca. 38 DM), hätte sich aber beinahe um 10.000 Lire erhöht, wäre ich beim Wechselgeld unaufmerksamer gewesen.
Der Verkehr ist sehr dicht und rasch, und es braucht Courage, über die Straßen zu gehen. Anfangs schließe ich mich kleinen Gruppen von Fußgängern an, die gemeinsam Mut zum
Vorstoß sammeln. An belebten Ecken verkauft man geröstete Kastanien oder Kokosnuss-Stücke, über die ein kleiner Springbrunnen Wasser sprüht, um sie vor dem Austrocknen zu schützen. Die Häuser sind oft schwarz
gefärbt von Alter und Abgasen, alles ist noch viel enger, als es auf dem Stadtplan aussieht. Ich setze mich in eine Kirche, um einige Minuten auszuruhen, und bald bin ich wieder an der Piazza di Spagna.
Vergebens gehe ich dem Schild »Ristorante Vegetariano« nach, das ich gleich nach meiner Ankunft sah und das mich in die Via Margutta wies. In der Via Margutta
gibt es jedoch überhaupt keine Restaurants, sondern nur Galerien, Läden mit Antiquitäten und exklusive Teppichhandlungen, alles kleine und teure Geschäfte. So kaufe ich eine große Portion Pommes
frites, drei Tütchen mit Tomatenketchup und einen großen Becher Coca-Cola mit Eis, alles zum Mitnehmen, bei McDonald’s.
Ich bin durstig nach dem langen Aufenthalt auf der Straße, mein Hals ist rau. In meinem Zimmer richte ich meine Abendmahlzeit her; einen Teller und Besteck habe ich vorsorglich
mitgebracht. Ich lese Erzählungen von Paul Bowles in einer deutschen, an Kommafehlern reichen Übersetzung.
Zweiter Tag in Rom Das Konzert
Montag, 3. Oktober 1988
Dreimaliges, durch längere Pausen unterbrochenes Klopfen weckt mich am nächsten Morgen. Die Wirtin bringt das unbestellte Frühstück, das genauso aussieht wie am Vortag. Nur das
Croissant hat heute ein deutliches Orangenaroma. Noch zu verschlafen zum Sitzen an einem Tisch hole ich mir das Tablett ans Bett.
Nach dem Frühstück dusche ich. Wieder ist herrliches Wetter, der Wind so warm wie gestern. Ich gehe wieder zur Villa hinauf. Der Flügel steht jetzt am äußersten Rand der Bühne. Ich
schaffe mir etwas Raum, öffne den Deckel und beginne zu üben. Als Beleuchtung dient eine große Stehlampe, deren Kabel ich in den Nebenraum verfolgt hatte. Ein älterer Herr diktiert hier in
großgemustertem und leichtem Bademantel einer Sekretärin. Als ich um Strom für die Stehlampe bitte, geht er zu einem Vorhang, dreht an einem versteckten Schalter und sagt lachend: »That’s a very
difficult thing here!« – Das sei hier sehr schwierig!
In den nächsten Stunden habe ich keine einzige ruhige Minute im Saal. Die Bühne muss umgebaut werden, die Stühle sind zu ordnen, Mikrophone werden eingerichtet, Kabel neu verlegt.
Der Klavierstimmer trifft ein, doch bitte ich ihn, später wiederzukommen, da die Stimmung durch mein notwendiges weiteres Üben leiden könnte. Der junge Mann macht eine saure Miene, lässt sich aber beschwichtigen
und geht nach einigem Hin und Her.
Signora Coralie Bartholemy kann jetzt telephonisch herbeigerufen werden. Sie ist Ende zwanzig, zierlich, hübsch und freundlich. Sie fragt nach meiner Unterkunft und nimmt meine
Beschwerden entgegen, bedauert, kein besseres Hotel gefunden zu haben. Alles war ausgebucht. Doch sie bietet erneute Suche an. Ich lehne schnell ab, da ich nicht vor dem Konzert die Unterkunft wechseln möchte
und für die noch verbleibende Übernachtung der Aufwand zu groß ist. Die bequeme Nähe zum Konzertsaal entschädigt mich hinreichend. Die Signora bestätigt meinen Verdacht, am ersten Abend betrogen worden zu
sein, als ich ihr den Preis der Taxifahrt nenne. Auf die Frage nach dem besten Geschäft für Musikalien und Schallplatten empfiehlt sie Ricordi an der Piazza Venezia, wo ich am Abend zuvor schon gewesen war.
Erst jetzt erfahre ich, dass mein Konzert live gesendet werden soll; dies erklärt die Parabolantennen, die nicht wie vermutet zu der Videoinstallation gehörten. Im Garten der
Villa hat man zwei enorme Hallplatten aufgestellt, und hinter einer Hausecke parkt der Aufnahme- und Übertragungswagen, in dem alles zusammenläuft. Hier höre ich einige Testaufnahmen ab, die mir der
gefällige Aufnahmeleiter vorspielt, um meine Meinung einzubeziehen. Der Klang ist akzeptabel, nicht übermäßig schön oder hässlich, etwas zu präsent vielleicht. Das Instrument ist gut zu orten, und
leichter Hall ist zugefügt, was mir wegen der Trockenheit des Saales aber durchaus angemessen erscheint.
Im Saal ist ein ständiges Kommen und Gehen. Keiner nimmt irgend Rücksicht, dass ich versuche, mich auf ein Konzert vorzubereiten. Manchmal ist ein ganzes Dutzend Leute anwesend. Man
bringt eine Leiter, trägt einen Karton voller Bücher vorbei, macht sogar Klangproben im Nebenzimmer (dessen Tür ich demonstrativ schließe). Neugierige kommen, von dem Betrieb, in den sich mein Klavierspiel
mischt, angezogen, bleiben am Eingang stehen und sehen allem zu, bis sie nach einigen Minuten gesättigt wieder gehen.
Gegen zwei beende ich das Üben und bringe meine Noten in die Pension, da sie mir bei den geplanten Einkäufen zu hinderlich wären. Vergebens suche ich einen Supermarkt. Nur
widerwillig kehre ich in einem Bistro ein, das zugleich Pizzeria ist. Ich bestelle eine Pizza funghi ohne Käse, grünen Salat und Coca-Cola, dann einen Espresso. Alles zusammen kostet 12.000 Lire, etwa
17 DM. Ich gehe zur Pension zurück, wieder an der Spanischen Treppe vorbei. »Wie die Hühner auf der Stange sitzen sie da«, höre ich hinter mir einen Deutschen in abschätzigem Ton zu seiner Begleitung
sagen, als er die vielen Menschen auf der Treppe sitzen sieht.
Gegen 19.30 Uhr bin ich wieder im Saal, um den Flügel für Cages Music of Changes zu vorzubereiten. Ich nehme das Notenpult heraus, stelle es auf seine Führungsschienen und
befestige es mit Klebeband. Ich markiere mit Hilfe kleiner selbstklebender Etiketten die Agraffen im Bereich von zwei Oktaven und sehe mir die Rahmenkonstruktion und Saitenaufteilung nochmals genau an, um einige
Stellen auch ohne Kennzeichnung zu finden. In ein Schall-Loch des Rahmens, durch das hindurch der Resonanzboden anzuschlagen ist, lege ich ein Papiertaschentuch, um eine Beschädigung des Holzes zu vermeiden,
und über die Stimmstifte der rechten Flügelhälfte breite ich ein langes Filztuch, um einen Trommelstock und einen Kugelschreiber aus Plastik geräuschlos ablegen zu können.
Ich entferne mehrere überflüssige Notenständer von der Bühne, verlege Strom- und Mikrophonkabel so gut es geht unter den Rändern eines Bühnenteppichs und säubere diesen von den
gröbsten Unreinheiten. Ich wasche mir die Hände, und als ich zurückkomme, fragt man, ob ich etwas zu trinken wünsche. Vielleicht einen Whiskey ...? – Ich bitte um eine Tasse Kaffee, die bald
darauf von einem Kellner in weißem Jackett gebracht wird, woher auch immer.
Ein Rundfunkmoderator stellt sich vor, der für die Radiohörer eine Einführung zu den Stücken geben soll. Er fragt nach Einzelheiten meiner Biographie und macht sich Notizen. Für
ihn ist im Nebenzimmer, das zugleich meine Garderobe darstellt, ein Tisch aufgebaut, auf dem ein Mikrophon steht und auf dem er seine Papiere ausgebreitet hat. Über Kopfhörer hält er Kontakt zum
Ãœbertragungswagen auf dem Hof.
Dieser an den Konzertsaal hinter der Bühne grenzende Raum ist ebenfalls ein kleiner Saal mit sehr hoher kuppelförmiger Decke. In alten, reich verzierten Schränken stehen hinter Glas
einheitlich in Halbleder gebundene Klassiker-Ausgaben und Geschichtswerke. Es gibt mehrere Schreibtische mit den üblichen Büroutensilien, Bücher sind auf dem Kaminsims und selbst auf Stühlen gestapelt. Ein
riesiger Gobelin hängt an der Wand: Ein farbiger Buschmann und zwei Ochsen stehen im Mittelpunkt. Der Buschmann, spärlich bekleidet, trägt auf einer geschnitzten Stange einen schönen Teppich.
Eine ältere Dame kommt und stellt sich vor. Auch sie gehört zum Rundfunk, doch bleibt mir ihre genaue Funktion unklar. Sie fragt sogleich, ob ich schon wisse, dass Franz Josef
Strauß gestorben sei. Ich wusste es nicht, und so erzählt sie Einzelheiten von einem Jagdausflug.
Eine junge Frau bringt einen Stoß Papiere, die die finanziellen Abmachungen betreffen und die ich sämtlich unterschreiben muss. Ein Photograph, der für eine Agentur arbeitet und seine
Bilder den Zeitungen anbieten will, macht innerhalb von zehn Minuten etwa zwanzig Portraitaufnahmen. Meist richtet er das Blitzlicht gegen die Zimmerdecke. Ich weigere mich, für eine Aufnahme am Flügel in den Saal
zurückzukehren, da bereits Publikum anwesend ist.
Auf einem der Schreibtische entdecke ich eine hübsche Faksimileausgabe von Le Corbusiers Reiseaufzeichnungen aus dem Orient, eine Reihe in schwarze, glänzende Kladdenpappe
gebundener Hefte in einer Kassette, in deren letztem die Aufzeichnungen transkribiert und ins Italienische übersetzt sind. Ich schreibe den Titel in mein Notizbuch. Signora Bartholemy, die im Konzert für mich
umblättern soll, weise ich kurz in das einfache System ein. Nach dem Konzert sagt sie, dies sei das erste Stück von Cage gewesen, das sie gehört habe.
Der Saal, der gut einhundertfünfzig Personen fasst, ist vollbesetzt; nachträglich erfahre ich, dass aus Platzmangel einige Leute weggeschickt werden mussten. Dies war aber auch bei den
vorangegangenen Konzerten so gewesen und zeugte von guter Werbung.
Unmittelbar nach den Nachrichten und der Wettervorhersage beginnt um 21 Uhr die Direktübertragung. Der Moderator spricht etwa zehn Minuten, wobei ich wenig mehr als die Namen der
Komponisten und die Titel der Stücke verstehe. Dann trete ich auf. Ich fühle mich wohl, das Instrument ist nicht übel und spielt sich ohne Mühe, ist nicht zu hart intoniert und hat dennoch einen schönen hellen,
gläsernen Diskant. Besonders eine exzellente Funktionsweise des Tonhaltepedals fällt mir auf; vorsichtshalber hatte ich brieflich auf seine Anfälligkeit hingewiesen.
Schon nach wenigen Minuten von Walter Zimmermanns Abgeschiedenheit verlassen einige Besucher den Saal, aber ich weiß, wie schwierig dieses Stück für Zuhörer ist,
die gerade Platz genommen haben, sich noch nicht beruhigt haben und sich erst auf Musik, Instrument, Raum und Sitzplatz einstellen müssen. Die zwei Stücke des Programms ließen andererseits keine
umgekehrte Reihenfolge zu.
Auch bei Cage gehen einige Zuhörer, doch nicht mehr als ein Dutzend und rücksichtsvollerweise vor allem in den Pausen zwischen den Sätzen. Insgesamt ist man aber aufmerksam und trägt
die Spannung mit. Das Husten hält sich in Grenzen, und man nutzt die Unterbrechungen zwischen den Sätzen ausgiebig, sich zu lockern. Der anschließende Beifall ist kurz; bei Zimmermann gehe ich nicht wieder auf
die Bühne zurück, bei Cage noch zweimal, bevor der Applaus endet.
Roberto Doati, einer der Organisatoren des Festivals und Herausgeber des so umfangreichen wie ansprechenden Programmbuchs, stellt sich vor, gratuliert und lädt mich zu dem nächsten
Festival in zwei Jahren bereits ein. Das Thema werde entweder »amerikanische Musik« oder eine Gegenüberstellung von Folklore und auf sie bezogener Kunstmusik sein. Stehend unterhalten wir uns etwa eine halbe
Stunde über diese Pläne, er macht sich einige Notizen. Ich verspreche weitere briefliche Informationen nach meiner Rückkehr.
Gegen 23 Uhr bin ich zurück in der Pension. Ein Anruf aus Deutschland erreicht mich, der Wirt holt mich in den kleinen Empfangsraum ans Telephon. Dann öffne ich eine Dose Sugo, ein
Fertiggericht aus Sojagranulat in Tomatensauce, und löffele sie aus. Dazu esse ich das Brötchen, das noch vom Frühstück übrig ist. Ich lese wieder Erzählungen von Bowles und ärgere mich weiter über die
entstellenden Kommafehler. Die meisten Erzählungen sind mir zu blutig. Die Entspannung fällt, wie gewöhnlich nach Konzerten, schwer.
Dritter Tag in Rom Ein freier Tag
Dienstag, 4. Oktober 1988
Am nächsten Morgen ist der Himmel leicht bewölkt, und es ist etwas kühler. Ideales Wetter zum Spazierengehen. Das Frühstück bringt mir heute eine dunkle Schönheit in Bluejeans,
gegen zehn Uhr verlasse ich das Haus. Ich komme an der stets belebten Spanischen Treppe vorbei und schlängele mich zwischen Obstverkäufern durch die Seitengassen zum Post- und Telegraphenamt, von wo aus ich Signor
Latanza anrufen will. Er ist ein Sammler mechanischer Klaviere, und ich erhoffe von ihm Auskünfte über Malipiero und andere Komponisten, die Originalwerke für dieses Instrument geschrieben haben. Eine
Frauenstimme am andern Ende der Leitung erklärt, dass ich eine veraltete Nummer hätte. Ich schlage die neue nach, doch hier meldet sich niemand. Mein Weg geht weiter in Richtung auf das Denkmal für Emanuele II.
Unerwartet stehe ich vor den Schaufenstern von Ricordi, das kleiner als erhofft ist. Der Bestand an Schallplatten mit zeitgenössischer Musik ist bescheiden und beläuft sich auf 150 oder
200 Stück. Meine Cage-Platte mit der Music of Changes steht, vielleicht wegen des Konzertes, vorne an. Immerhin. Ich finde nichts, was mich interessiert. In der Notenabteilung ist das Gedränge zu groß und
mein Mut zum Fragen zu klein. Bücher über Musik stehen verschlossen in einer überfüllten Glasvitrine, so dass man nicht einmal die Titel lesen kann. Enttäuscht verlasse ich das Geschäft.
Ich gehe am Emanuele-Denkmal vorbei, um das Forum Romanum zu sehen, und folge der umgrenzenden Mauer, von der aus man einen guten Ãœberblick hat. Im Hintergrund taucht das Kolosseum
auf, und ich beginne die Zusammenhänge zwischen den Örtlichkeiten zu verstehen. Vielleicht unter dem Eindruck allzu vieler Hollywood-Filme ruft der Anblick der Ruinen jedoch fast nur Erinnerungen an
Christenverfolgung, Arenakämpfe, Muskelmänner und Greueltaten in mir wach.
Auf dem Rückweg trinke ich in einer Bar einen Espresso und eine Dose Coca-Cola (Diet), und da ich mich wieder an der Piazza Venezia befinde, betrete ich ein zweites Mal das Geschäft von
Ricordi und spreche eine Verkäuferin auf Alfredo Casellas Klaviertrio an, nach dem ich mich hatte umsehen wollen. Die Verkäuferin führt mich zunächst zu einer Schublade mit Klaviermusik Casellas, doch nach
weiteren Erklärungen finden wir im Fach für Kammermusik ein Exemplar des Stückes, schon etwas abgegriffen, aber eben das einzige, und so kaufe ich es für stolze 54.000 Lire (75 DM). Ich frage nach
Büchern über Casella, Busoni und Malipiero, und die Vitrine wird aufgeschlossen. In einem Buch über Busoni blättere ich und finde eine Angabe, die mir neu ist, doch kaufe ich nichts mehr.
Wieder benutze ich die Seitenstraßen und kleinen Gässchen, um dem starken Verkehr der Hauptstraßen auszuweichen. Eine alte Frau hält mir einen Blumenuntersetzer aus grünem Plastik
entgegen, in dem schon einige Münzen liegen, und ich füge einen kleinen Geldschein hinzu. In der Kirche Sancti Apostoli, die an meinem Weg liegt, ruhe ich aus.
Einige Ecken weiter stehe ich plötzlich vor den Fontani di Trevi, die ich zwar vage von Bildern kenne, auf deren Anblick ich aber nicht vorbereitet bin. Der Brunnen gefällt mir in
seiner Wildheit sehr, wenn es mir auch unpassend erscheint, ihn in einem so kleinen Winkel zwischen den Häusern eingeklemmt zu sehen. Vielleicht macht aber gerade diese Enge, Nähe und Zugänglichkeit seine
Beliebtheit aus – die Jugend jedenfalls belagert die Anlage allseits, watet mit nackten Füßen im Wasser und sonnt sich ungeniert.
Im Schaufenster eines Lebensmittelgeschäftes sehe ich Romulus und Remus, gesäugt von der Wölfin, aus Brot gebacken, daneben die Ecke des Kolosseums mit der berühmten Bruchstelle, auch
sie zum Verzehr. Man isst die Geschichte! Ich gehe in mehrere Buchhandlungen, Antiquariate und Plattengeschäfte, doch nirgends finde ich etwas, das mich interessiert. Opern beherrschen den Markt.
Wieder gehe ich die Via del Corso zur Piazza del Popolo hinauf, denn hier soll in einer Nebenstraße, der Via dei Greci, das Conservatorio Santa Cecilia sein, dessen Musikbibliothek
mein Ziel ist. Wieder komme ich an den Antiquaren vorbei, wo ich das Buch über Busoni erstanden hatte. In einem winzigen Obstgeschäft in der Nähe der Piazza del Popolo kaufe ich ein Kilo weißer Trauben.
Nur wenige Schritt weiter gibt es eine Pizzeria. Ein Dutzend kleiner Tische steht auf der Straße, große Sonnenschirme dazwischen. Zwei amerikanische Touristen sind die
einzigen Gäste, auf der Straße so gut wie kein Verkehr. Ich setze mich und bestelle Spaghetti pomodoro, einen Liter Mineralwasser und Salat, letzteren vorsichtshalber »senza prosciutto et senza formaggio« (ohne
Schinken und Käse), was aber ohnedies nicht vorgesehen schien. Das Essen kommt rasch und ist gut; die Spaghetti sind etwas dick, doch »al dente«, mit Biss gekocht.
Ich finde das Conservatorio, dessen Bibliothek leider geschlossen ist. Wenig mehr entnehme ich den ausführlichen Erklärungen des Portiers, und so kehre ich zu meiner Pension
zurück, die nur zwei Minuten entfernt liegt.
Mein Zimmer ist nicht aufgeräumt, das Frühstückstablett steht noch auf dem Tischchen, das Bett ist noch in Unordnung. Ich gehe in den Empfangsraum und läute das Glöckchen auf der
Theke. Die Wirtin kommt hinter einem Vorhang heraus. Sie macht ein erschrockenes Gesicht, als sie mich sieht, und ich verstehe, dass sie vergessen hat, mein Zimmer zu machen. Da ich telephonieren will, schreibt
sie den Zählerstand auf ein Zettelchen und kehrt wieder in ihre Gemächer hinter dem Vorhang zurück, wo eine vielköpfige Mittagsrunde lautstark tafelt.
Nach vergeblichem Versuch, Signora Bartholemy zu erreichen, habe ich ein längeres Telephonat mit Antonio Latanza, dem ich die Probleme mit meinem Malipiero-Kommentar erkläre. Er ist
sehr hilfsbereit, versteht meine Probleme und zeigt sich an kommenden Projekten interessiert. Er gibt mir mehrere Adressen und Telephonnummern, die mir weiterhelfen sollen. Zu meiner Ãœberraschung besitzt er
neben der Malipiero-Rolle auch jene von Casella, von der es auch eine (inzwischen leider vergriffene) Plattenaufnahme gegeben habe. Er lässt sich am Ende des Gesprächs noch einmal meinen Namen buchstabieren,
bekräftigt abermals sein Interesse an einer Zusammenarbeit und gesteht: »The mechanical piano – that’s all my love!«, das mechanische Klavier ist seine ganze Liebe. Er bestellt Grüße an Jürgen
Hocker, und ich bedanke mich für seine Unterstützung. Er sagt, ich müsse ihn besuchen, wenn ich wieder einmal nach Rom komme.
Gegen acht Uhr abends gehe ich wieder auf die Straße hinunter, zum Zeitvertreib und um nicht zu lange in dem hässlichen Pensionszimmerchen zu sein. Ich nehme mir den Vatikan als fernes
Ziel. Auf der Via del Corso entdecke ich ein weiteres Schallplattengeschäft. Man ist im Begriff zu schließen, und ich muss mich beeilen. Ich fahre mit dem Aufzug in die dritte Etage, die Klassikabteilung.
Das Sortiment an zeitgenössischer Musik ist nur wenig größer als bei Ricordi, doch finde ich eine Platte mit Musik von Daniele Lombardi, den mir kurz zuvor Latanza als Verfasser eines
Stückes für mechanisches Klavier genannt hatte. Die zweite Platte stammt aus der russischen »Melodija«-Reihe und enthält unter anderem die Colorines von Silvestre Revueltas, was zwei Besonderheiten
auf einmal sind. Ich kaufe beide Platten (19 DM das Stück). Auch sie sehen abgegriffen aus und liegen offenbar schon lange in dem Geschäft.
Nachdem ich den Tiber überquert habe, wird mir der Weg zum Vatikan zu weit und die Gegend, durch die ich komme, etwas zu einsam. So kehre ich über den Fluss zurück und
wandere ziellos durch die Gassen. Ich verirre mich gelegentlich, kann mich aber dank der guten Beschilderung und mit Hilfe meines Stadtplans, den ich dann unter einer Laterne konsultiere, immer wieder zurechtfinden.
Ich stoße auf die Piazza Navona, wo ein Brunnen im Stil des Trevibrunnens steht, jedoch viel kleiner ist. Überall gibt es Staffeleien, und die Zeichner und Maler haben Stühle und Lampen hergerichtet, falls ein
Tourist sich portraitieren lassen möchte.
Ich mache einen großen Bogen nach Süden und komme wieder an der Piazza Venezia heraus, sehe nochmals die Fontani di Trevi und bin gegen halb zehn zurück in meiner Unterkunft. Ich packe
den Koffer; meine Beine schmerzen, die Hände sind leicht geschwollen.
Abreise
Mittwoch, 5. Oktober 1988
Frühmorgens, kurz nach halb sechs, werde ich für einen Augenblick wach. Es regnet wolkenbruchartig. Ich sehe mich bereits von Kopf bis Fuß durchnässt, Koffer in beiden
Händen, zur Metrostation eilen. Ich schlafe wieder ein und stehe um sieben auf, ziehe mich an und packe die restlichen Sachen zusammen. Die Straße ist schon wieder trocken, nicht einmal Pfützen sind zu
sehen, und die Sonne scheint.
In der Pension ist noch niemand wach, und so klingele ich mehrmals. Als sich nach einer Weile noch immer nichts rührt, schwenke ich die Glocke nahe an dem Vorhang, der zu den
Privaträumen führt. Da kommt der Wirt herbei, etwas verschlafen, doch freundlich wie immer. Für den Meldeschein schreibt er die Angaben aus meinem Pass ab, ich bezahle, und er holt das Wechselgeld aus dem
Nebenraum.
Ich nehme die U-Bahn zum Einheitstarif von 700 Lire (97 Pf.) zur Stazione Termini, dann den Bus zum Flughafen. Durch den Berufsverkehr dauert die Fahrt fast doppelt so lange wie
die Hinfahrt. Im Flughafen herrscht wieder größtes Gedränge und Durcheinander, etwa eine halbe Stunde verbringe ich in der Schlange zum Einchecken und zur Gepäckaufgabe. Nach einem letzten Espresso und einem
Becher Coca-Cola sitze ich schließlich am Gate 24, wo ich hingehöre. Hände und Rücken schmerzen von den Koffern.
Das Flugzeug ist zu etwa drei Vierteln besetzt. Gleich nach dem Start bitte ich die Stewardess um einen neuen Platz, da an meinem Sitz die Nichtraucherzone beginnt und zwei
besonders starke Raucher direkt vor mir sitzen. Auch hier steht das vegetarische Essen parat: eiskaltes Gemüse, ein Brötchen, ein Becher Wasser, rote Weintrauben. Ein Fläschchen Wein und Cracker stecke ich
als Mitbringsel ein. Dann kommt guter, starker Kaffee.
Die Landung in Frankfurt ist sanft; Passkontrolle, Gepäckausgabe, Zoll – alles verläuft reibungslos. Ich rufe zu Hause an, um meine Rückkehr anzukündigen. Um vier Uhr
nachmittags bin ich wieder am Kölner Hauptbahnhof, zwanzig Minuten später bringt mich die S-Bahn nach Bergisch Gladbach, von wo aus ich ein Taxi nehme. Kurz vor fünf bin ich wieder zu Hause.
Anmerkung
Das vom 1. bis 5. Oktober 1988 entstandene originale Reisetagebuch wurde in den folgenden Jahren mehrfach revidiert, zuletzt Ende April 2000.
Mein Interesse an Werken für mechanisches Klavier, von denen hier mehrfach die Rede ist, hatte seinen Ausgang von der Musik Conlon Nancarrows
genommen. Nancarrow wurde gemeinsam mit György Ligeti am 15. Oktober 1988 zu dem vom Westdeutschen Rundfunk veranstalteten Festival Musik und Maschine. Nancarrow und Ligeti in Köln erwartet, dessen Programm Wolfgang Becker-Carsten und ich gemeinsam zusammengestellt hatten.
Erste Eingabe ins Internet: Sonntag, 30. April 2000
Letzte Änderung: Dienstag, 3. Mai 2016
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