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Mannheim
1959–1966
Autobiographische Studien III
von
Herbert Henck
Kapitel 1 Fortgesetzte Chemie
Kapitel 2 Chemie (Schluss)
Kapitel 3 Wohnen und Arbeit des Vaters
Kapitel 4 Wohnen
Kapitel 5 Doris Rothmund
Kapitel 6 Doris Rothmund (Forts.)
Kapitel 7 Familienleben, Familiensterben
Kapitel 8 Ein Flugzeug, ein Schiff und das liebe Geld
Kapitel 9 Tod der Mutter
Erstes Kapitel Fortgesetzte Chemie
In unserem Mannheimer Badezimmer richtete ich mir mit Einverständnis meiner Eltern eine Ecke ein, in der ich nach und nach mein gesamtes Arsenal an Chemikalien und
Experimentiergeräten unterbrachte. Ein alter Tisch kam unter ein Fenster zu stehen, und auf der Fensterbank wurde ein mehrstufiges Regal aufgestellt, das sich schnell mit Flaschen und Behältern in
vielerlei Formen und Größen füllte. Für die Flaschen mit ätzenden Flüssigkeiten legte ich Glasscheiben unter, da die Lackierung des Regals zusehends litt, und auch der Tisch wurde mit einer starken gläsernen
Platte geschützt. In zwei geräumigen Schubladen einer Kommode, aus welcher die zunächst darin befindlichen Handtücher allmählich in ein anderes Zimmer wanderten, brachte ich die meisten Hilfsgeräte unter:
Bechergläser, Kolben, Trichter, einen Liebigkühler, verschiedene Stativklemmen, Rührstäbe, einen Schütteltrichter, eine Tüpfelplatte, einen Porzellanmörser, Pipetten, eine Filternutsche, eine Gaswaschflasche,
Stand- und Messzylinder, Schläuche, Korken und Gummistopfen, ja selbst eine altmodische Retorte und vieles andere, dessen ich mich nicht mehr entsinne. Einige Reste davon besitze ich noch heute, nachdem
ich das meiste in meiner Stuttgarter Zeit, wo alles nur unbenutzt im Keller verpackt stand, an einen Chemiestudenten verkauft hatte. Dieses Inventar baute sich natürlich erst langsam über die Jahre hin auf, da
meine Mittel zu beschränkt waren für einen systematischen, planmäßigen Erwerb. Eine alte, aber noch funktionierende Wasserstrahlpumpe aus Metall brachte mir mein Vater eines Tages mit, die ich an dem
Wasserhahn des Waschbeckens in der Toilette installierte, und nach langem Sparen hatte ich das Geld zusammen, mir einen Propangasbrenner samt der dazugehörigen Propangasflasche zu leisten, denn die Flamme eines
Spiritusbrenners erwies sich für viele Versuche und Manipulationen, wie etwa das Biegen von Glasrohren in die benötigten Formen, als nicht heiß genug. Die schwere und unhandliche Gasflasche besorgte ich aus einem
entlegenen Geschäft im Süden der Stadt und schob sie durch ganz Mannheim auf dem Gepäckträger meines Fahrrads zu uns nach Hause in den Norden, da ich nicht gleichzeitig fahren konnte.
Einiges andere Zubehör erhielt ich aus unserem Gymnasium, das damals gerade auf Grund des ständigen Platzmangels um eine Etage aufgestockt wurde. Im Rahmen der Renovierungsarbeiten, die
auch den Chemie- und Physiksaal sowie deren Vorbereitungsräume erfassten, rangierten die Lehrer allerlei Gerätschaften aus, die für den Unterricht nicht mehr nutzten, teils weil sie defekt und irreparabel, teils
weil sie veraltet und inzwischen durch Moderneres und Anschaulicheres ersetzt worden waren. Man stellte die Sachen auf einem Flur zusammen, und die Schüler konnten sich nehmen, was ihnen opportun schien. Hier fand
ich ebenso einen handlichen Trockenschrank sowie eine noch funktionstüchtige, mir äußerst willkommene Schalenwaage, die auf einem kleinen Holzkasten mit Schublade für die Gewichte montiert war. Beide
Beutestücke transportierte ich wieder auf dem Gepäckträger meines Fahrrads nach Hause, stolz wie ein Spanier. Ein andermal entdeckte ich verschiedene Teile einer ausgedienten Telefonanlage sowie ein museumsreifes
Spiegelgalvanometer mit Vorwiderstand, an dem offenbar niemand Gefallen gefunden hatte. Mit letzterem wusste auch ich zunächst eigentlich nichts Rechtes anzufangen, doch war mir offensichtlich, dass es sich um ein
bestens verarbeitetes, hochempfindliches und einst sehr teures Messinstrument für geringste elektrische Ströme handeln müsse. Ich schrieb einen Brief an die damals noch bestehende Herstellerfirma in München, und
wider Erwarten schickte man mir alsbald Original-Unterlagen zu, die man noch irgendwo unter alten Papieren ausgegraben hatte. Mit einfachen Mitteln baute ich dann eine Lichtquelle, die mit Hilfe einer Lupe auf den
kleinen eingebauten Spiegel ausgerichtet war, und versuchte damit die Elektrizität in den Pflanzen zu messen, die meine Mutter auf unsere Fensterbänke gestellt hatte. War mein Vorgehen auch naiv genug, so
drehte sich das Spiegelchen jedoch bei jeder Berührung der Pflanzen und ließ einen Lichtpunkt durch das verdunkelte Zimmer auf einer selbstentworfenen meterlangen Skala auf Millimeterpapier wandern, ganz wie es
sich gehörte.
Bald war ich im Geschäft der Gebrüder Buddeberg, die damals nahe bei der Jesuitenkirche, unweit des Mannheimer Schlosses ein Geschäft für Laborbedarf unterhielten, Stammkunde
geworden, und Herr Scherer, ein mir gewogener grauhaariger Verkäufer in labormäßig weißem Kittel, der meinen Forscherdrang wie meine beschränkten Finanzen erkannt hatte, schenkte mir den ein oder anderen
fabrikneuen Artikel, der sich über die Jahre hin als unverkäuflich erwiesen hatte, mir aber durchaus noch manch guten Dienst erweisen konnte. Auch ein großer, gebundener Katalog des Angebots dieser Firma
wurde mir zu meiner Freude einmal verehrt, enthielt dieser doch viele Abbildungen und Bezeichnungen, die sachkundig erklärten, was zu welchem Zweck und in welchen Größen hergestellt werde und augenblicklich
lieferbar sei.
Die meisten Chemikalien erwarb ich in einer großen, für meine Zwecke idealen Drogerie in der Mannheimer Innenstadt, nur wenige Schritt weit von Heckels Musikaliengeschäft entfernt,
meiner Erinnerung nach Ludwig & Schütthelm geheißen. Auch hier kannte man mich bald dank meiner Sonderwünsche. Gewöhnlich wartete ich, bis bestimmte erfahrene und geduldige Verkäufer frei wurden, die sich
mit dem von mir Gesuchten auskannten, mir manchmal die Begleitung auf den Hof gestatteten, wo häufiger verlangte Flüssigkeiten in großen kippbaren Korbflaschen lagerten, und die mir mit speziellen Hornlöffelchen
oft genug nur wenige Gramm von Pulvern oder Salzen aus größeren Behältern abfüllten und auswogen, die Tütchen oder Fläschchen beschrifteten und schließlich den Preis ausrechneten. Man brachte meiner Hingabe
Verständnis entgegen und maß sie nicht an der Höhe der Einkünfte. Nachdem sich ein vertrauteres Verhältnis eingestellt hatte, wurden mir die Kataloge der großen chemischen Firma Merck in Darmstadt
überlassen, so dass ich selbst nachschlagen konnte, was in welchen Reinheitsgraden und in welchen Mengen abgegeben werde. Mehrfach musste mich meine Mutter hierher begleiten, damit sie sogenannte Giftscheine
unterschreibe, ohne die eine Abgabe bestimmter Substanzen an Minderjährige nicht erlaubt war. Beispielsweise fielen alle von mir benötigten Silber- oder Quecksilbersalze unter diese Regelung.
Bei meinen Versuchen trug ich gewöhnlich, zum Leidwesen meiner Mutter nicht immer, weiße Kittel, die aus alten Beständen meines Vaters stammten und die schnell durch Säurespritzer
oder Funkenflug Löcher bekamen. Auch meine Hände zeigten des öfteren Spuren, insbesondere durch den Umgang mit Salpeter- oder Pikrinsäure, welche die Haut über mehrere Wochen hinweg gelb verfärben können.
Für zahlreiche Versuche wäre sicherlich eine Schutzbrille angebracht gewesen, doch da ich ohnehin Brillenträger war, schien diese Maßnahme entbehrlich. Schnell hatte ich verstanden, dass das Hantieren mit
verschiedenen Chemikalien außerordentlich gefährlich, ja lebensgefährlich sein könne, da es etwa keiner großen Kenntnisse bedurfte, so Bedrohliches wie Nitroglyzerin im Reagenzglas zu erzeugen.
Ich verzichtete daher lieber auf solche Versuche mit zu ungewissem Ausgang, denn da ich die Bücher, die ich benutzte, ernstnahm, zweifelte ich nicht, dass die unmissverständlichen Warnungen darin
nicht ohne Grund ausgesprochen wurden.
Bedenke ich, was für Versuche ich inhaltlich im Einzelnen anstellte, so verlegte sich der Schwerpunkt nach Anfängen, bei denen alles nur Mögliche, mir unter die Finger Geratende
und mit meinen Mitteln irgend zu Verwirklichende angegangen und ausprobiert wurde, allmählich auf eine Art der chemischen Analyse. Wusste man bei einer Substanz nicht, aus was sie sich zusammensetzte, gab es die
verschiedensten Merkmale und Trennungsgänge, den Inhaltsstoffen nach und nach auf die Spur zu kommen und sie dann schließlich durch Gegenproben eindeutig nachzuweisen. Hierbei beschränkten sich meine
Möglichkeiten darauf, nur festzustellen, welche Bestandteile überhaupt vorlagen; zu einer Mengenbestimmung hätte es zum Teil anderer Verfahren und erheblich teurerer Apparaturen bedurft. Auch das Verfahren der
Papierchromatographie, deren Grundlagen ich verstand, erwies sich für meine Handhabung als zu schwierig und für meine Mittel als zu kostspielig.
Wie dies üblicherweise geschieht und durchaus seine Berechtigung hat, war ich ganz von der anorganischen Chemie ausgegangen, in der die Reaktionen vergleichsweise übersichtlich, ja
lehrbuchmäßig ablaufen. Bald eröffnete sich mit der organischen Chemie mit ihren Kohlenwasserstoff-Verbindungen aber eine zweite neue Welt, die von geradezu unendlicher Vielfalt, Verzweigungs- und
Ausbaufähigkeit geprägt schien. Durch das, was ich in Büchern nachlas oder später auf der Schule lernte, erschlossen sich mir jedoch auch hier die wichtigsten Begriffe und Ordnungen, da im Grunde alles auf
denselben, in der anorganischen Chemie kennen gelernten Gesetzen beruhte, sich systematisch vom Einfachen zum Komplexen ausbildete und einer einheitlichen Nomenklatur unterlag. Das Lernen in kleinen Schritten
bewährte sich auch hier.
Meine früheren analytischen Bemühungen ließen sich durch dieses neue Feld vorzüglich ergänzen, denn es gab eine beträchtliche Anzahl von Verbindungen, die sehr empfindlich auf das
Vorhandensein anorganischer Salze reagierten, dieselben in neue, komplexe und durch drastische Farbumschläge oder Ausfällungen gekennzeichnete Verbindungen einbauten und somit als analytische Indikatoren
eingesetzt werden konnten. Schließlich faszinierte mich der Nachweis durch organische Reagenzien so sehr, dass ich die unterschiedlichen Methoden aus Büchern zusammentrug, mit der Schreibmaschine abtippte und in
ein Buch über analytische Chemie einmünden lassen wollte. Natürlich war dies ein Vorhaben, dem ich weder durch umfassende wissenschaftliche Kenntnisse noch durch die Fähigkeit zur Darstellung auch nur
ansatzweise gewachsen war. Aber wenn das Unternehmen, das vor allem im Sammeln, ja Horten von Material bestand, auch ganz in den Anfängen stecken blieb, reizte mich die Vorstellung, an einem Buch zu arbeiten,
außerordentlich.
Keinesfalls nebensächlich war, dass viele meiner Versuche ästhetische, zum Teil sogar etwas magische Komponenten durch dramatische Licht-, Flammen- und Farberscheinungen annahmen, die
den Wert des intellektuell Erfassbaren steigerten und so deutlich Höhepunkte meiner Tätigkeit waren, dass ich bei Gelegenheit einige von ihnen meinen Eltern, meiner Schwester oder meinen Freunden vorführte. Wie
unter den Händen eines Zauberers verwandelten sich zwei wasserhelle Flüssigkeiten bei ihrer Vereinigung zu einer tiefroten; und ließ man diese Tinte in eine dritte wasserhelle Lösung tropfen, verschwand
jegliche Färbung augenblicklich wieder, und alles sah aus wie zu Beginn. Flammen, in die man auf einem neutralen Stäbchen bestimmte Salze einbrachte, färbten sich je nach Bestandteilen in bengalisches
Karminrot, Gelb, Blau oder Grün. Rosen- und kirschrote Niederschläge flockten wolkig aus, anderes erzeugte schon in winzigsten Mengen purpurne, smaragdgrüne, kornblumen- oder himmelblaue Lösungen, und mit
wenigen Gramm einer solchen Substanz hätte sich mühelos das Wasser eines ganzen Schwimmbeckens färben lassen. Oxidationen brachten im dunklen Zimmer eine Flüssigkeit für kurze Zeit zum Aufleuchten; goss man sie
dabei in ein anderes Gefäß um, ergab sich ein kleiner Strom von Licht, und Tropfen sprühten wie Funken. Öliger Brei begann sich auf einer feuerfesten Unterlage bald nach seinem Ansatz zu blähen und zu dampfen,
entzündete sich plötzlich unter Zischen und Knistern von selbst und verbrannte mit hell violettblauer Flamme zu schwarzer Asche. Nach dem Anfachen kroch Glut durch Eisen- und Schwefelpulver, und weiße Nebel
entstanden, sobald man die benetzten Stöpsel von Ammoniak- und Salzsäureflasche nur nebeneinander legte. Das vorsichtige Schichten verschiedener Flüssigkeiten in einem Reagenzglas rief an der
Berührungsstelle einen blauen Ring hervor, und wieder andere Flüssigkeiten erschienen im durchfallenden Licht orange, im auffallenden Licht dagegen grün, so dass sich, wie ich zufällig bemerkte, mit
Hilfe eines Spiegels beide Wirkungen zugleich betrachten ließen. Und da gab es die tieffarbenen konzentrierten Lösungen, aus denen sich die schönsten Kristalle heranbilden konnten, wie es, ganz unerwartet,
einmal über Nacht mit einer blauen Kupfervitriollösung in solch vollkommener Weise geschah, dass ich das Ergebnis photographierte.
In mein sechzehntes Lebensjahr fällt der Erwerb von Büchern wie Carl Robert Nollers Lehrbuch der organischen Chemie oder die Organisch-chemische Experimentierkunst von Weygand-Hilgetag,
Werke von jeweils über tausend Seiten Umfang, die auch an Universitäten eingeführt waren und die ich als solide Grundlage und Nachschlagewerke jederzeit zur Hand haben wollte. Auch Gattermann-Wielands Praxis des
organischen Chemikers, das ich immer von Neuem aus der Bücherei entlieh, leistete mir gute Dienste. Mehr auf einen jugendlich forschenden Leser und die Verbindung zur Praxis, zum Verständnis alltäglich
zu beobachtender Erscheinungen war Römpps Organische Chemie im Probierglas abgestimmt, das mit Kapitelüberschriften wie Lebensgefährliche Gangsterschnäpse, Der verzuckerte Tannenbaum oder Blitz und Donner
aus Baumwolle die Neugierde des Lernenden zu wecken vermochte, zugleich aber durchaus seriöse Informationen enthielt und zu manch schöner Beobachtung anregte.
Gelegentlich besuchten mich interessierte Schulfreunde und beteiligten sich an den Experimenten, darunter besonders Peter Vaith, zuweilen auch Karl-Theodor Eisele oder Gerd Scherer. In
der Gymnasialzeit bildeten wir eine Zeitlang eine Art naturwissenschaftlichen Viererblocks in den ersten beiden Bänken gleich hinter dem Lehrertisch am Fenster. Alle drei Genannten wurden Wissenschaftler und
unterrichten inzwischen als Professoren an den Universitäten in Freiburg im Breisgau oder Straßburg, sei es in Medizin, Mathematik oder Genetik. Auch Heinrich Schneider besuchte mich des öfteren und nahm regen
Anteil an jeglichem, das mit Chemie, aber auch mit Musik zu tun hatte. Er studierte als Einziger von uns tatsächlich Chemie, doch starb er schon um sein fünfzigstes Lebensjahr an einer Herzkrankheit.
Zweites Kapitel Chemie (Schluss)
Bei allem Gesagten wäre es mir freilich unangenehm, wenn der Eindruck eines frühreifen oder überbegabten jungen Wissenschaftlers entstünde oder dank der Ausbreitung meiner einstigen
Interessen nun meine Kenntnisse und Fähigkeiten auf diesem Gebiet überschätzt würden. Ich erkannte später sehr wohl meine mich in jungen Jahren nicht kümmernden, da bei Bedarf behebbaren Beschränkungen
und Grenzen, die beispielsweise darin bestanden, nur ziemlich ungenaue Vorstellungen von Vorgängen im unsichtbaren atomaren Bereich zu besitzen oder auch nur annähernd die mathematischen Voraussetzungen
mitzubringen, die zur Berechnung und Erklärung derselben vonnöten gewesen wären. Wie auch in der Musik fehlten mir damals noch wesentliche abstrahierende Fähigkeiten, das konkret und substantiell Vorliegende als
eine Spielart des Allgemeinen zu sehen und die Übertragbarkeit als Quelle des Schöpferischen zu ergreifen. Die Dinge mussten ihre gegenständliche, ja handwerkliche Seite besitzen, damit sie mich
begeisterten, sie durften sich nicht allein in meinem Kopf und meiner Vorstellung abspielen. Vor meinen Augen und Ohren sollte sich alles entfalten, und Sichtbares, Hörbares, Fühl- und Anfassbares sollte
mir begegnen, nicht nur gebrochen und stellvertreten durch Zahlen, Formeln oder Zeichen auf dem Papier. Da jede Einseitigkeit die Aufmerksamkeit aber zugleich auf Dinge lenkt, die bei einer ausgewogeneren
Betrachtungsweise leichter entgehen, hatte auch diese jugendliche, unbekümmerte Verschiebung der Gewichte ihr Gutes, und es scheint mir nachgerade eher von Vorteil gewesen zu sein, mich in bestimmten Abschnitten
meiner Entwicklung der Begeisterung und dem Überschwang hingegeben und mehr der ein oder anderen Richtung, die mir gefiel, zugeneigt zu haben. Die Wirklichkeit holte mich immer noch früh genug ein.
Neben der Freude, die Beziehungen der Elemente, aus denen unsere Welt besteht, ganz unmittelbar betrachten und erleben zu können, und die Kräfte, die zu ihrer Verbindung oder Trennung
führen, in unabänderlicher Gesetzlichkeit wirken zu sehen, lag der hauptsächliche Nutzen meines Tuns aber vielleicht darin, dass ich mich weitestgehend autodidaktisch in ein doch äußerst vielfältiges,
ständig sich ins scheinbar Uferlose erweiterndes, modifizierendes, ja erneuerndes Wissensgebiet einarbeitete. Dieses lenkte und leitete mich – zwar hatte ich mitunter eine Hilfe, doch eigentlich keinen Lehrer
außer den Büchern – wie aus sich selbst heraus und ohne dass ich mir eigentlich mühsam etwas anzueignen hatte; denn die Bemühung um Verstehen enthielt bereits das Lernen und wurde, weil es kein
Selbstzweck war, ungezwungen eins mit diesem. Theorie und Praxis gingen Hand in Hand. Die naturgesetzlichen Grundlagen der Materie nötigten ja geradezu zu systematischem und folgerichtigem Denken, und da
falsche Überlegungen und Schlüsse auf dieser Stufe meiner Entwicklung meistens ebenso schnell zu Tage traten wie handwerklich unsauberes Arbeiten, war alles aufs Ganze gesehen ein Teil des geistigen Erwachens und
Begreifens, das sich aus dem Erwerb und der Anwendung von Kenntnissen, Fähigkeiten und Erfahrungen nährte.
Um mit dieser Schilderung meiner kleinen chemischen Laufbahn nun aber doch zu einem Ende zu kommen, sei noch eines besonderen Tages gedacht, der in den November oder Dezember 1965
fiel und einen Punkt bezeichnet, an dem ich meine Wahl zwischen Musik und Chemie bereits getroffen hatte, vielleicht weil ich kurz zuvor als Preisträger aus einem überregionalen Klavierwettbewerb hervorgegangen
war. Meine Mutter befand sich seit Mitte Oktober im Krankenhaus, und mein Vater hatte uns Kindern einige Wochen später eröffnet, dass mit ihrer Heilung nicht mehr zu rechnen sei und sie uns bald für immer
verlassen werde. Meiner Mutter selbst verschwieg man ihr nahendes Ende und machte ihr bis zuletzt Hoffnung, wenn auch nicht auf Genesung, so doch auf Besserung ihres Zustandes. Meine Schwester,
drei Jahre älter als ich, hatte ihr Studium der Kunstgeschichte an der Heidelberger Universität für das Wintersemester unterbrochen, um für meinen Vater und mich zu kochen und die Wohnung zu
versorgen. Bisher nicht erlebte Spannungen lagen in der Luft und ließen unsere sich stauenden Sorgen und Ängste mitunter heftig auflodern. Wie ein gewaltiger Mühlstein, der jeden Augenblick herabstürzen
konnte, schwebte das nahende Verhängnis Monate lang über uns, verschattete und lähmte alles, denn keiner wusste, wie es weitergehen solle. Meine Schulleistungen gerieten zur Nebensache; anderes hatte jetzt
Vorrang. Fand ich irgend Trost, so sicherlich mehr in der Musik als der Chemie. Über Monate hinweg besuchte ich meine Mutter täglich im Städtischen Krankenhaus, was nicht weiter schwierig war, da ich nach
Überquerung der Friedrich-Ebert-Brücke ohnehin auf dem Rückweg von der Schule mit dem Fahrrad dort vorbeikam.
Da geschah es eines Mittags, mein Vater war abwesend, dass ich in der Küche beim Essen saß, während meine Schwester Geschirr abwusch. Wir unterhielten uns in gereizter Stimmung, worum
auch immer es ging, und es kam zu immer heftigeren Wortwechseln, Vorwürfen, Anklagen, Beschuldigungen und schließlich so wüsten und widerlichen Beschimpfungen, dass ich irgendwann, im Innersten verletzt, voller
Erregung aufsprang und meine Schwester schlug. War es zwischen uns als Kindern zwar öfters zu tätlichen Auseinandersetzungen gekommen, so hatten Übergriffe wie der jetzige bisher nie stattgefunden, und
kaum geschehen, bereute ich meine Handlungsweise zutiefst. Ich lief aus dem Haus und fuhr mit dem Fahrrad in die Stadt.
Am Nachmittag war ich durch Vermittlung unseres Chemielehrers mit einer kleinen Gruppe anderer Schüler zu einer praktischen Übung in das riesige, einen Großteil der Stadt
einnehmende Ludwigshafener Chemiewerk der Badischen Anilin- und Sodafabrik, kurz BASF genannt, eingeladen worden, doch wusste ich nicht, was mich dort erwarten würde. Ich nahm den Weg durch Seitenstraßen der
Mannheimer Innenstadt, der mich später hinter dem Schloss zur Rheinbrücke hinüber nach Ludwigshafen bringen sollte. Als ich an der Jesuitenkirche vorbeikam, stieg ich jedoch ab, sicherte mein Fahrrad, betrat die
fast menschenleere Kirche, setzte mich irgendwo im Halbdunkel auf eine der Holzbänke und ließ meinen Tränen freien Lauf. Ich war an einem Tiefpunkt meines Lebens angelangt. So blieb ich sitzen, unbeobachtet
und ungestört, von Schuldgefühlen gepeinigt, von Wehmut erfüllt, und ließ die Zeit verstreichen, bis ich mich gefasst hatte und wieder auf den Weg machte.
In dem genannten Chemiewerk wurden wir nach einigen Begrüßungsworten eines leitenden Angestellten von einem Assistenten betreut, der unsere Gruppe aus dem Gymnasium mit einer Gruppe von
Lehrlingen vereinte, die ihre Ausbildung unmittelbar im Werk erhielt. Man teilte uns mit, dass wir nun gemeinsam in einem richtigen Labor versuchen wollten, diverse vorbereitete Gemische von Substanzen
zu untersuchen, wobei die Gymnasiasten im voraus erfahren sollten, um was es sich im Einzelnen handele, während die fortgeschritteneren Lehrlinge die Aufgabe erhielten, dasselbe selbständig herauszufinden. Da
mir solche Prozeduren durchaus vertraut waren und ich mich unterfordert fühlte, nur etwas mir bereits Bekanntes zu analysieren, bat ich ebenfalls um eine unbekannte Mischung, die man mir schließlich mit
skeptischen Blicken auch aushändigte.
Nach den üblichen Trenngängen war mir bald klar, um welche Salze es sich handeln müsse, und ich ging mit meiner Liste zu dem Assistenten, der nicht wenig staunte, mich als ersten
fertig zu sehen. Der Vergleich mit seiner eigenen Liste zeigte jedoch einen Fehler, und er forderte mich auf, der Sache auf den Grund zu gehen. Dies tat ich unverzüglich, und es erwies sich, dass ich eine
elementare Ausfällung von Schwefel mit einem unlöslichen Sulfid von ähnlich gelber Farbe, ich glaube es war Antimonsulfid, verwechselt hatte. Wieder ging ich zu dem Assistenten, und nun stimmte alles. Da ich
einen weiten Rückweg hatte und es früh dunkel wurde, wollte ich mich verabschieden und nicht darauf warten, bis die anderen mit ihren Arbeiten fertig wären, doch der Assistent brachte mich nach kurzer
Rücksprache zu seinem Abteilungsleiter. Dieser ließ mich in seinem Büro Platz nehmen, lobte meine Kenntnisse und fragte, ob ich denn schon wisse, was ich einmal studieren wolle. Ja, das wusste ich
damals schon. Musik wollte ich studieren, und Pianist wollte ich werden, sagte ich. Als ich abends wieder nach Hause kam, waren die Spannungen sogleich wieder da. Meine Schwester hatte meinem Vater das Geschehene
natürlich auf ihre Weise berichtet. Ein Mädchen schlagen, das macht man doch nicht, zürnte er.
Ich habe diesen Tag, den ich kaum werde vergessen können, bewusst in seinem Zusammenhang erzählt, weil seine Besonderheit wohl auch darin bestand, dass, wenn man es so nennen möchte,
Triumph und Niederlage, Versagen und Erfolg, Freude und Leid so dicht beieinander lagen, wie es nicht häufig in meinem Leben geschah.
Drittes Kapitel Wohnen und Arbeit des Vaters
Der Umzug von Sinsheim nach Mannheim, von der Klein- in die Großstadt, hatte in fast allen unseren Lebensverhältnissen wieder einschneidende Änderungen mit sich gebracht. Ich war noch
keine elf Jahre, als wir eintrafen, noch keine achtzehn, als wir wieder fortzogen. Diese sieben Jahre wohnten wir im nördlichen Teil der Stadt in einem Eckhaus der Herzogenriedstraße, deren südliche
Hälfte damals nur im Bereich ihrer Einmündung in die Waldhofstraße bebaut war. Daran schlossen sich eine größere Kolonie von Kleingärten und hieran, fast schon auf der Höhe des Landesgefängnisses und bis an
die Hochuferstraße grenzend, mehrere Äcker, die bereits zu der Haftanstalt gehörten und von Häftlingen in sogenannten Außenkommandos bestellt wurden. Der Herzogenriedpark war südlich dieser Felder und
hinter diesem lag in Richtung des Stadtzentrums die Neckarstadt.
Unsere Wohnung war die mittlere Etage eines geräumigen, dreistöckigen Hauses, eines Altbaus, der Teil einer Siedlung mit Dienstwohnungen für die Angestellten des Gefängnisses
war. Die an unserem Haus abzweigende Seitenstraße führte nach etwa hundert Metern zum Haupttor der Haftanstalt, der größten des Landes Baden-Württemberg, einem riesigen Bau aus dunklem, roten Sandstein, der
noch vor Ende des Ersten Weltkriegs fertiggestellt worden war. Hier war mein Vater nun als Anstaltsarzt tätig. Nach der üblichen Probezeit wurde er Beamter auf Lebenszeit und erhielt, zur Freude seiner Mutter, die
auf solcherlei Äußerlichkeiten unverhohlen stolz war, den Titel eines Regierungsmedizinalrates; später wurde er zum Oberregierungsmedizinalrat und schließlich zum Medizinaldirektor in Stuttgart befördert, als
welcher er auch pensioniert wurde. Er hatte sich fortan um das gesundheitliche Wohl der Gefangenen zu kümmern, sowohl derer, die sich in Untersuchungshaft befanden, wie auch derer, die eine Haftstrafe
verbüßten; und, wie man es von einem Arzt gerechterweise erwarten darf, hatte er jeden Fall ohne Ansehen von Person, Stand und Lebenswandel mit gleicher Fürsorge, Umsicht und Verantwortlichkeit zu behandeln.
Doch die Patienten glichen nicht immer jenen, denen er bislang begegnet war. Die Mehrzahl der vorgebrachten Beschwerden waren sicherlich echt und begründet oder lebten, was
ebenfalls der Klärung durch den Arzt bedarf und den Patienten nachzusehen ist, nur in deren Vorstellung. Andere Leiden wurden gezielt und erfahren simuliert und dienten einzig als Mittel zum Zweck, etwas
Abwechslung in die Eintönigkeit zu bringen und die allgegenwärtige Langeweile zu bekämpfen, sich mit anderen Inhaftierten günstiger austauschen zu können, einen Fluchtversuch vorzubereiten oder zu
sonstigem. Nicht allzu selten kam es auch vor, dass sich Gefangene auf die unterschiedlichsten Arten selbst Gewalt antaten, sei es um in ihrer Verzweiflung und der Hoffnungslosigkeit ihrer Lage ihrem Leben
tatsächlich ein Ende zu bereiten oder sich nur in einer Weise zu verletzen, dass eine Einlieferung in die anstaltseigene Krankenabteilung, in ernsteren Fällen in das Städtische Krankenhaus notwendig wurde.
Hinzu kamen kleinere Unfälle, wie sie sich im Anstaltsbereich, besonders in den Werkstätten immer einmal zutragen, und hier war zumindest Erste Hilfe vonnöten. Ein Arzt genießt, ähnlich den Seelsorgern,
freilich auch in Einrichtungen dieser Art eine Sonderstellung und wird von vielen Inhaftierten nicht zwangsläufig gleichgesetzt mit dem Justizapparat, der ihn beschäftigt. Wie das Beichtgeheimnis, so erlaubt
die ärztliche Schweigepflicht hier ein offeneres Wort als gegenüber den Vollzugsbeamten oder Zellengenossen, deren Diskretion nicht in vergleichbarer Weise gewährleistet ist.
Da mein Vater jedoch nicht nur als praktischer Arzt (heute spricht man vom Facharzt für Allgemeinmedizin), sondern auch auf seinem Spezialgebiet der Psychiatrie und Neurologie tätig
sein wollte, hatte er an seine Bewerbung die Bedingung geknüpft, nervenfachärztliche Gutachten für die örtlichen Gerichte oder die Staatsanwaltschaft in den Räumen der Haftanstalt erstellen zu dürfen. Da es
zum einen an solchen Gutachtern mangelte und zum andern die Zusammenlegung der Aufgaben eines Gutachters und Anstaltsarztes in einer Person dem Staat aufwändige Vorführungen der Häftlinge bei auswärtigen Ärzten
ersparte, ging man ohne Zögern auf seine Bedingung ein und erlaubte ihm offiziell diese getrennt vergütete Nebentätigkeit. Nach der täglichen Visite in seinem Krankenrevier und Bearbeitung der
Krankmeldungen ließ er sich daher den jeweils zu begutachtenden Untersuchungshäftling, dessen polizeiliche Ermittlungsakten und Anklageschrift man ihm bereits gesandt hatte, zur
„Exploration“ in sein Arbeitszimmer bringen. Er nahm dann eine Reihe neurologischer Untersuchungen und psychologischer Tests vor und führte oft über viele Tage hinweg Gespräche mit den Beschuldigten,
in denen deren Lebensweg ebenso wie die ihnen zur Last gelegten Taten in intimsten Einzelheiten zur Sprache kamen. Sorgfältige Berechnungen der vor einer Tat zu sich genommenen alkoholischen
Getränke, Rauschgifte oder Medikamente ergänzten die Befunde ebenso wie verschiedene Untersuchungen des Gehirns, die über dessen anatomische Beschaffenheit und organische Gesundheit Aufschluss geben sollten.
Letztere Untersuchungen ließen sich wegen der hierbei erforderlichen teuren Geräte nur an großen Krankenhäusern durchführen, in denen die Häftlinge, in Begleitung von Wachpersonal, eigens vorgeführt werden
mussten.
Lagen alle Ergebnisse vor, was manchmal mehrere Wochen dauerte, fasste mein Vater sie zunächst handschriftlich in einer fast nur ihm entzifferbaren Schrift zusammen, schrieb sein
Gutachten dann eigenhändig mit der Schreibmaschine in mehrfacher Ausfertigung ins Reine und schickte es dem Auftraggeber zu. Dabei folgte er immer derselben Gliederung, die nach einer fast gleichlautenden
Einleitung auf die Vorgeschichte und die angestellten Untersuchungen einging, die geführten Gespräche auswertete und in einem Beurteilung genannten Schlusskapitel zur Frage der strafrechtlichen
Verantwortlichkeit Stellung nahm. Hier wurde gewöhnlich auch die Frage diskutiert, ob eine Rückfälligkeit anzunehmen sei, und im Falle schwerwiegender psychischer Störungen oder Erkrankungen wurden
Empfehlungen ausgesprochen, wie zum Beispiel diejenige, den Beschuldigten in eine offene oder geschlossene Heilanstalt einzuweisen und das ein oder andere therapeutische Verfahren anzuwenden. Zurechnungsfähigkeit,
verminderte Zurechnungsfähigkeit und Unzurechnungsfähigkeit im Sinne des damals gültigen Paragraphen 51 des Strafgesetzbuches und die begründete Einstufung in eine seiner Absätze hatten hierbei entscheidende
Bedeutung. Sofern man den Angeklagten die Tat oder Taten, derer man sie beschuldigte, zweifelsfrei nachweisen konnte, oblag es dann dem Richter zu veranlassen, ob überhaupt eine Bestrafung ausgesprochen werden
könne, und ob es bei der Bemessung der Strafmaßes mildernde Umstände gebe oder nicht. Kam es zu einer Verhandlung vor Gericht, erhielt mein Vater eine offizielle Ladung zugestellt und trug sein bereits
schriftlich eingereichtes Gutachten zumeist in freier Rede vor. Anschließend hatten der Richter, die Schöffen, Geschworenen, der Staatsanwalt oder die Verteidigung Gelegenheit, ihm Fragen zu stellen. Gab es keine
Fragen mehr, wurde er vom Gericht entlassen, konnte bei wichtigen Erkenntnissen, die in sein Fach fielen und sich erst während der weiteren Verhandlung ergaben, aber jederzeit neu vorgeladen werden. Auch wurde, je
nach Ergebnis des Gutachtens, häufiger von der Staatsanwaltschaft oder der Verteidigung ein zweites Gutachten durch andere Sachverständige beantragt, da man in bestimmten Fällen um die unterschiedlichen
Auffassungen und Lehrmeinungen der Experten wusste und sich vorbehielt, diese vor Gericht gegeneinander auszuspielen.
Diese gutachterliche Tätigkeit bot sich meinem Vater in den Mannheimer Jahren in steigendem Umfang und setzte sich bis zu seiner gesundheitlich bedingten vorzeitigen Pensionierung
bald nach seinem einundsechzigsten Lebensjahr in Stuttgart fort. Stets lagerten gewichtige, mit Bindfaden und einem speziellen Knoten verschnürte Aktenhügel auf seinem Schreibtisch, so dass er in späteren Jahren
Mühe hatte, allen Aufträgen nachzukommen. Manchen Fall musste er wegen Überlastung zurückschicken, und gelegentlich tat er sich schwer, ein steuerlich günstiges Verhältnis zwischen seiner hauptberuflichen
Tätigkeit und seinen Nebeneinkünften zu wahren. Man schätzte seine Arbeit nicht nur wegen ihrer wissenschaftlichen Fundierung und der Sorgfalt, mit der den einzelnen Fragen nachgegangen wurde, sondern
offensichtlich auch auf Grund ihrer schriftlichen und mündlichen Form, welche die oftmals komplexen Zusammenhänge selbst einem Laien verständlich machten. Nach seinem Ausscheiden aus dem Justizvollzug hatte mein
Vater ein ganzes kleines Zimmer voller Regale, in denen er seine alphabetisch nach Personennamen geordneten Gutachten aufbewahrte – sicherlich weit über hundert breite Ordner, vielleicht gar das Doppelte.
Mein Vater erzählte gewöhnlich gern, detailreich und anschaulich von den Fällen, an denen er gerade arbeitete, wie auch von dem, was sich unlängst hinter den hohen Mauern und
Gittern ereignet hatte. Dabei wussten wir, die ihm zuhörten, dass es sich um vertrauliche Mitteilungen handelte, und hüteten uns sehr wohl, dieses Vertrauen je zu enttäuschen. Auf diese Weise erhielten wir
sehr genaue Einblicke in die Umstände von Straftaten und die Handlungsweisen der Beschuldigten, die letztlich zu ihrem Freispruch oder ihrer Anklage und ihrem staatlich verfügten Gewahrsam geführt
hatten. – Wenigstens eine der meist kurzen und mir noch erinnerlichen Erzählungen sei hier eingerückt:
Drei junge Männer fuhren auf der hinteren Plattform einer Straßenbahn, und zwei von ihnen hatten sich abgesprochen, dem Dritten, der geistig etwas
zurückgeblieben und unschwer zu hintergehen war, einen Streich zu spielen. Zu diesem Zweck verkündete der eine des Pärchens großspurig, er werde jetzt gleich die Notbremse ziehen, um auch ohne Haltestelle
einmal dort auszusteigen, wo es ihm am bequemsten sei und er nicht wie sonst ein Stück weit zurücklaufen müsse. Dabei fasste er den roten Handgriff der Notbremse, tat aber nur so, als ob er daran zöge. Die
Notbremse ließ sich trotz seiner Bemühungen scheinbar nicht bewegen. „Ei, da muss was kaputt sein! Versuchs du mal!“ sagte er scheinheilig zu seinem Komplicen. Doch auch dieser tat verabredungsgemäß
nur so, als ob er sich bemühe, die Bremse zu ziehen, ließ Hand und Arm zittern, die Knöchel der Faust hell hervortreten und verzog sein Gesicht vor Anstrengung. Doch auch er schien keinen Erfolg zu haben. Nach
kurzem gab er auf und sagte etwas ärgerlich zu dem Dritten, dem Opfer der Übung, dass die Bremse festgerostet sein müsse. Sie lasse sich keinen Millimeter bewegen. Er könne es ja selbst versuchen, vielleicht
habe er mehr Glück.
Solchermaßen herausgefordert erwartete der Dritte schwere Arbeit, holte tief Luft und riss mit aller Gewalt an dem Griff. Es gab einen Ruck durch
die Straßenbahn, man stolperte und stieß gegeneinander, Einkaufs- und Schultaschen fielen um, und im Nu kam die Bahn zum Stehen. Die Leute lärmten und sahen aus den Fenstern, was das plötzliche Bremsen zu
bedeuten habe und ob vielleicht ein Unfall geschehen sei. Autos hupten, und der Schaffner kämpfte sich durch den Wagen, um unter Umständen Hilfe zu leisten oder nach dem Rechten zu sehen. Auf seine Frage, wer
die Notbremse gezogen habe, zeigten alle auf den Schuldigen, der völlig überrascht merkte, dass er plötzlich im Mittelpunkt stand und dem gar nicht bewusst wurde, dass er aufs Glatteis geführt worden war. In
seiner Arglosigkeit erzählte er die Vorgeschichte. Da seine Freunde sich in dem allgemeinen Trubel aber schnell unsichtbar gemacht hatten, schenkte man seinen Worten wenig Glauben. Man schimpfte, sprach von grobem
Unfug, Anzeige, Geldstrafe, dem Fahrplan und anderem mehr und holte schließlich einen Polizisten herbei, um die Personalien des Schuldigen aufzunehmen und ihn seiner gerechten Strafe zuzuführen.
So kam der junge Mann, der sich nicht ausweisen konnte, nach mehreren Stationen ins Untersuchungsgefängnis, und mein Vater erhielt nach Übersendung
der Akten alsbald den Auftrag, ihn auf seine strafrechtliche Verantwortlichkeit hin zu begutachten. Zu welchem Ergebnis er kam, kann ich freilich nicht sagen.
Neben solchen Begebenheiten erfuhren wir aus erster Hand manche Einzelheit des Gefängnisalltages, wie sie selten nach außen dringen. Was sich an unglaublichen, zum Teil
entsetzlichen und haarsträubenden Schicksalen hier vielhundertfach zusammenballte, lässt sich kaum beschreiben, und ich kann auch heute noch nicht sagen, ob der Umgang mit diesen Menschen meinem Vater
wirklich Freude oder wenigstens so etwas wie Genugtuung bereitete. Vielleicht wurde sein Selbstgefühl durch das Bewusstsein gestärkt, es bisweilen mit den schwierigsten Menschen der Gesellschaft hier zu tun
zu haben und sich auch angesichts der hartgesottensten, kaltblütigsten und rücksichtslosesten Charaktere behaupten zu können. Dass er beschimpft oder verhöhnt, belogen und betrogen wurde, war vielleicht nicht
sein Alltag, gehörte aber gewiss ebenso zu seinem Beruf wie die Gefahr, körperlich angegriffen zu werden. Letzteres kam glücklicherweise nie vor, auch wenn sich, seinem Bericht zufolge, die Situation einige Male
zuspitzte und bedrohlich wurde. Besonders aggressive Häftlinge kamen jedoch immer in Begleitung eines oder mehrerer Aufsichtsbeamten, und die Gefangenen wurden unter Umständen auch in Handschellen
vorgeführt, ja selbst zwangsweise ärztlich versorgt, wenn dies aus medizinischer Sicht unumgänglich erschien und jede Säumigkeit eine Anklage wegen unterlassener Hilfeleistung hätte nach sich ziehen
können.
Wie diese Arbeitsverhältnisse indes in der Praxis aussehen konnten und mit welcher Einstellung, in welchem Geist man Probleme anging, mag ein Fall zeigen, den mir mein Vater einst
schilderte. Sein Untersuchungszimmer im Krankenrevier der Anstalt besaß eine unbenutzte und natürlich immer abgeschlossene Tür, die auf einen Korridor führte, durch den vorübergehend, anlässlich von
Bauarbeiten, immer wieder Gefangene geführt werden mussten; wohin und zu welchem Zweck spielt dabei keine Rolle. Jedenfalls hatten es sich einige Häftlinge angewöhnt, im Vorbeigehen mit der Faust gegen diese Tür
zu schlagen, um meinen Vater oder wen auch immer dahinter zu ärgern. Vermutlich war mein Vater dann des öfteren in den Flur hinaus gekommen und hatte nach der Ursache geforscht und sich die Unterlassung der
Störung erbeten, hatte aber nie einen Schuldigen ausfindig machen können. Es war nichts zu machen, der Zustand dauerte an. So sah mein Vater schließlich keinen anderen Ausweg, als den Direktor der Anstalt auf den
Missstand aufmerksam zu machen und ihn zu ersuchen, diese ständig sich wiederholende Schikane mit geeigneten Mitteln abzustellen. Der Direktor nahm die Beschwerde entgegen, und seine einzige Bemerkung war: „Herr
Dr. Henck, der Mensch ist ein Gewohnheitstier …!“ Damit verabschiedete er meinen Vater, und die Sache war für ihn vom Tisch.
Mein Vater hatte jedoch auch seine eigenen Strategien entwickelt, den besonderen Anforderungen seines Berufes nachzukommen, und es belustigte uns sehr, als er einmal ein ebenso harmloses
wie wirksames Geheimnis seiner Kunst verriet, das mitzuteilen ich mich nicht scheue, denn es schadet niemandem und wird den Glauben an die Segnungen der medizinischen Wissenschaft kaum untergraben können.
Jedenfalls verabreichte er in bestimmten Fällen seinen Patienten nach einem offensichtlichen Studium der Packungsbeilage ein Scheinmedikament, das unter dem Namen Placebo bekannt ist, mit etwas bedenklicher Miene
und der Belehrung, hier handele es sich um ein vergleichsweise starkes Präparat; und man solle es daher zunächst nur mit einer halben Tablette versuchen. Bleibe die Wirkung dann unbefriedigend, könne man die
Dosis aber noch auf eine ganze Tablette steigern. „Viel hilft viel“, sagen die Patienten, während die Ärzte sagen: „Erlaubt ist, was hilft“ oder „Wer heilt, hat recht“.
Einige Male durfte ich meinen Vater in seine Arbeitsräume innerhalb der Anstalt begleiten, sowohl in Mannheim als auch später in Stuttgart, wo ich dann mehrfach Gefangene besuchte und
mich auch länger mit diesen unterhielt. In Mannheim war ich vermutlich nur neugierig gewesen, ein Gefängnis einmal von innen zu sehen, und da mein Vater die Verantwortung übernahm, scheint dieser Wunsch
keine weiteren Probleme verursacht zu haben. An der Pforte der Anstalt gab es einen kleinen Raum, in dem sich das diensthabende Wachpersonal aufhielt. Schellte jemand draußen am Tor, öffnete sich ein
kleines vergittertes Fenster, und ein Beamter fragte, worum es gehe. Innerhalb der Wachstube dominierten Telefon- und später Videoüberwachungsanlagen. Eingelassen in eine Wand befand sich eine große Zahl von
Schließfächern, Postfächern nicht unähnlich, in denen jeder hier Bedienstete den ihm anvertrauten Schlüsselbund beim Verlassen der Anstalt verwahren musste. Nach draußen durfte allein der Schlüssel für
dieses Schließfach mitgenommen werden, denn der Verlust eines Schlüsselbunds aus dem inneren Anstaltsbereich hätte unverzüglich umfangreiche und sehr kostspielige Maßnahmen ausgelöst; sämtliche betroffenen
Schlösser hätten ausgetauscht werden müssen. Der Bund meines Vaters umfasste wohl mehr als ein Dutzend Einzelschlüssel. Sie wurden durch eine Eisenkette zusammengehalten und wogen gut und gern über ein
Kilo, waren groß und stabil und hatten mir völlig unbekannte, ausgefallene Bartformen. Gewiss waren sie unter dem Gesichtspunkt entworfen worden, jede Nachahmung irgend zu erschweren oder zu verhindern. Man
wusste, dass es unter den Gefangenen manchmal überragende Spezialisten auf diesem Gebiet gab, und so war höchste Vorsicht geboten.
Mit diesem Schlüsselbund versehen schloss uns mein Vater nun von Tür zu Tür hindurch bis zu seinem Arbeitszimmer, das allerdings mit seinem Schreibtisch, einem Arzneischrank, einer
Liege und dem üblichen medizinischen Inventar im Grunde nichts Besonderes enthielt. Einzig die vergitterten Fenster unterschieden sich von anderen Sprechzimmern. Der Weg zu ihm war der interessantere Teil. Zumeist
waren es schwere Gittertüren, durch die wir hindurch mussten, Türen, durch die man stets hindurch blicken konnte und bei denen man somit vor Überraschungen auf der anderen Seite sicher war. Den passenden
Schlüssel suchen, aufschließen, hindurchgehen, zuschließen; dieser Vorgang wiederholte sich am Ende eines jeden Flurs, an jeder Treppe, an jedem Raum, den man betreten wollte. Rings um alle Schlüssellöcher war
der weiße Lack von den herabhängenden Schlüsseln abgeschlagen, und das blanke Eisen sah darunter hervor. Alles blitzte vor Sauberkeit, und die Böden schienen eben erst frisch gebohnert worden zu sein. Unsere
Schritte hallten weit vernehmlich in den kahlen Gängen, und mehr noch dröhnte das Schließen der Schlösser und laute Zuschlagen der Türen. Gab es Fenster, waren sie klein und ebenfalls mit kräftigen Gittern
versehen. Gelegentlich begegneten wir einem „Kommando“ Gefangener, die alle blaue Arbeitsanzüge mit roten Erkennungsstreifen an der Hose trugen. Sie fegten, wischten oder wienerten, auch wenn nirgends
Schmutz zu sehen war.
Von einem runden Mittelbau, der Zentrale, zweigten vier mehrstöckige Zellenflügel ab, die der Anstalt auf Stadtplänen das Aussehen einer kleinen Windmühle verliehen. Auch diese
Architektur, gegen Ende des 18. Jahrhunderts von Jeremy Bentham als „Panopticon“ konzipiert, diente natürlich der Sicherheit und leichteren Bewachung, denn auf jeder Etagenebene konnte man so von einer
in der Mitte gelegenen und mit Glas eingefassten Wachstube in diese vier Flügel blicken, von einem bis zum anderen Ende. Links und rechts der Gänge lagen die eigentlichen Zellen. Zwischen den Stockwerken waren
Netze gespannt, damit niemand, mit oder ohne Absicht, in die Tiefe stürze. Alles war so gebaut, dass es mit einem Blick zu erfassen war und keinerlei Möglichkeit bestand, sich hinter einer Ecke,
einem Vorsprung, einer Biegung oder dergleichen zu verbergen. Die Wachstuben waren rund um die Uhr besetzt, und auch hier gab es zahlreiche technische Einrichtungen, die der Sicherheit und schnellen Kommunikation
dienen sollten. Das Tragen von Schusswaffen war dem Personal meiner Erinnerung nach untersagt, denn man befürchtete wohl zu Recht, dass bei einem Diebstahl oder im Falle einer gewaltsamen Entwendung sofort die
Gefahr einer Geiselnahme mit all ihren fatalen Folgen gegeben war.
Viertes Kapitel Wohnen
Wir wohnten im ersten Obergeschoss einer geräumigen Dienstwohnung, deren großer Flur und Eingangsbereich den Zugang zu vier Zimmern, der Küche und dem Badezimmer ermöglichte. Die
hier präsentierten Schwälmer Bauernmöbel kamen schon früher zur Sprache. Die Zimmer waren an die vier Meter hoch und mussten mit Kohleöfen erwärmt werden. Eierkohlen, Koks und Briketts lagerten im Keller und
waren eimerweise über die langen Treppen nach oben zu schaffen; fünfzig Stufen waren es allemal. Ein eigenes Zimmer hatte nur meine Schwester, da das repräsentative Wohnzimmer den Arbeiten meines Vaters
vorbehalten war und das angrenzende Balkonzimmer, in dem ich fortan schlief, arbeitete und Klavier spielte, wegen seiner Größe zumindest sonntags auch als Esszimmer und gemeinsam genutzter Aufenthaltsraum diente.
Im Parterre wohnten die Familien zweier Aufsichtsbeamten, im Dachgeschoss ein höherer Angestellter und der evangelische Anstaltspfarrer, der gerne Marschmusik hörte und dazu im Takt in seinem Zimmer auf und ab
ging. Kinder gab es außer uns zunächst keine.
Unmittelbar hinter dem Gefängnis schloss sich nach Norden das Gelände des Städtischen Gaswerks Luzenberg an. Man erblickte hier riesige Fabrikanlagen und haushohe Kohlehalden, die zu
Koks und Heizgas verarbeitet wurden. Unzählige verwinkelte Rohre verbanden alles. In regelmäßigen Abständen stiegen gewaltige weiße Dampfwolken aus einer Esse in den Himmel, verflüchtigten sich schneller oder
langsamer, rochen aber oft bedenklich und ließen es, je nach Windrichtung, geraten erscheinen, die Fenster zu schließen oder geschlossen zu halten. Etwas abgelegen von der eigentlichen Fabrik stand ein grauer
Gasspeicherturm, der alles überragte und selbst von vielen anderen Stadtteilen aus sichtbar war. Er war nicht so romantisch wie die Kraichgauer Burg Steinsberg, hatte aber auf seine Weise auch etwas von einem
Kompass. Erblickte man ihn von ferne über den Dächern, wusste man ungefähr, wo man wohnte. Wegen seiner unheimlichen Größe und seines gigantischen Fassungsvermögens waren wir Kinder besorgt um unser Heil und
fragten, was geschähe, wenn er vielleicht einmal Feuer finge und in die Luft flöge. Oder wenn es wieder einmal Krieg gäbe und eine Bombe darauf fiele. Er hätte uns ja alle ins Verderben reißen können.
Mein Vater aber meinte, dass es im Falle einer Entzündung wohl nur eine gewaltige Stichflamme geben werde, jedenfalls keine Explosion, und dass man, wo unser Haus stand, dann kaum davon betroffen sein werde. Wir
glaubten ihm wohl oder übel.
Über die gesamte Gegend breitete sich Kohlestaub aus, der besonders an den weißen Fensterrahmen sichtbar war und dort einen ölig-schmierigen Film bildete. Man wusste meist am Geruch
der Luft, aus welcher Richtung der Wind wehte, denn man wohnte in einer Stadt der chemischen Großindustrie, deren Umweltauflagen in den fünfziger und sechziger Jahren sicher noch andere waren als heute.
Wir wussten bald auch, welche Gerüche welchen Fabriken zuzuordnen waren, etwa wenn aus den Waldhofer Zellstoffwerken ein Geruch herüberkam, der an geräucherten Schinken erinnerte. Anderes roch eher schweflig nach
faulen Eiern und wieder anderes nach starken Reinigungsmitteln. Ich würde die Gerüche noch heute, Jahrzehnte später, wiedererkennen. Doch auch hier war der Mensch ein Gewohnheitstier, und niemand, außer
vielleicht die Hausfrauen, die beim Fensterputzen einiges mehr zu leisten hatten als anderswo, regte sich groß darüber auf. Man hatte sich eingerichtet mit dem „Mannemer Dreck“ (eine Spezialität der
Konditoren), man lebte ja nicht in Davos.
Es gab einen Garten, der zum Haus gehörte. Seine Ausmaße und Anlage hatten wenig gemein mit unseren üppigen Sinsheimer Verhältnissen, und entsprechend den vielen Familien, die hier
beisammen wohnten, war er durch Wege in Parzellen gegliedert. Für jeden blieben nur kleine Beete und ein Stückchen Rasen mit zwei oder drei Obstbäumen übrig. Zudem verkleinerte eine Baugrube, stets nur das Loch
genannt, die vorhandene Gartenfläche merklich. Einst war hier die Erde für einen Neubau ausgeschachtet worden. Durch irgendwelche Umstände war man von dem Vorhaben dann wieder abgekommen, hatte die Grube
aber nicht wieder zugeschüttet. Es blieb, wie es war, und allmählich wucherten Gras, Büsche und Gesträuch in der Grube und verwilderten; für den Gartenbau wurde sie nicht genutzt.
Mein Klavierspiel erfuhr empfindliche Einschränkungen. Es gab eine Hausordnung, die zwischen ein und drei Uhr eine Mittagsruhe vorschrieb. Und auch wenn mein Vater von seinem Dienst,
meist zwischen fünf und sechs Uhr abends zurückkehrte und dann noch an seinem Schreibtisch hinter der Wand mit dem Klavier saß, konnte ich nicht musizieren, da ihn dies bei der Ausfertigung seiner Gutachten
störte. Gleichwohl ergriff ich in zunehmendem Maße jede sich bietende Gelegenheit, hatte aber, wie nicht anders zu erwarten, auch Zeiten, wo mich andere Interessen mehr fesselten.
Fünftes Kapitel Doris Rothmund
Nachdem wir uns in die neuen Verhältnisse eingelebt hatten und auch der Übergang ins Gymnasium glücklich vollzogen war, meldete mich meine Mutter im Herbst 1959
im Städtischen Konservatorium an, damit hier mein Klavierunterricht eine Fortsetzung finde. Ich hatte Richard Laugs, dem damaligen Direktor, etwas vorzuspielen, und er wies mich Doris Rothmund als Lehrerin zu.
Diese für mein weiteres Leben und insbesondere meine Berufswahl durchaus folgenreiche Entscheidung war mir zunächst nicht recht, denn ich hatte mir zur Abwechslung einen männlichen Lehrer gewünscht. Nach meinen
ersten Unterrichtsstunden änderte ich meine Meinung jedoch schnell.
Doris Rothmund war damals Anfang dreißig (sie war knapp zwei Jahre jünger als meine Mutter) und besaß gegenüber allen anderen Lehrern oder gar Menschen, die ich bis dahin kennen
gelernt hatte, den Vorzug eines geradezu südländischen, feurigen Temperaments, das mir zunächst etwas exaltiert, wenn nicht exzentrisch erschien und an das ich mich erst zu gewöhnen hatte. Was sie aber besonders
auszeichnete und was von mir recht schnell erkannt und bewundert wurde, war der Umstand, dass sie durch und durch Pianistin und Künstlerin war, völlig in der Musik aufging und überhaupt keine anderen Interessen
zu haben schien. Unterrichtete sie nicht gerade, so übte sie Klavier, ununterbrochen, ja manisch. Mitunter sah sie gleichzeitig fern, las ein Buch oder verzehrte sogar ihr Abendbrot während des Übens, wie
sie mir erzählte. Um zu jeder Tages- und Nachtzeit arbeiten zu können, hatte sie in ihren schönen Steinway-Flügel eine mit dem dritten Pedal bedienbare Dämpfungsvorrichtung einbauen lassen. Darüber hinaus
besaß sie eine sogenannte stumme Klaviatur, die sie, wie Liszt, mit auf Reisen nahm, um ihre Finger und ihr Gedächtnis auch unterwegs, auf Bahnfahrten, im Hotel oder der Konzertgarderobe ohne Störung anderer
schulen zu können.
Rothmund war mittelgroß und sehr schlank, trug gerne etwas auffällige, bunte, doch zugleich modische, damenhafte Kleider und Schuhe mit hohen Absätzen (die für den Pedalgebrauch
eher hinderlich waren), hatte rabenschwarzes Haar und schminkte sich, als müsse sie ihren Namen hierdurch noch unterstreichen, die Lippen so stark, dass an den Mundstücken ihrer Zigaretten, die sie in großer
Zahl rauchte, stets Lippenstift zu sehen war. Sie liebte besonders virtuose, ja hochvirtuose Musik, bei der man sich nicht zurückzunehmen und sein Licht unter den Scheffel zu stellen brauchte, und
sie besaß sowohl die Technik wie den Mut, diese mit Bravour anzugehen. Trug sie ein solches Werk vor, gingen eine wunderbare Kraft, Leidenschaftlichkeit und Hingabe von ihr aus. Sie war eine Besessene, die um die
Richtigkeit des von ihr eingeschlagenen Weges wusste und sich von nichts und niemandem hätte beirren lassen. Da sie fast nie in Mannheim eingeladen wurde, habe ich sie leider nie im Konzert, sondern immer nur im
Unterricht, später auch im Rundfunk etwas spielen hören. Sie wurde gleichwohl des öfteren ins Ausland, vor allem nach Spanien eingeladen, was nicht ohne Einfluss auf ihre äußere Erscheinung geblieben sein mag.
Ein Prospekt, den sie anscheinend auf eigene Kosten drucken ließ und der sich unter meinen Papieren erhalten hat, zeigt ihr Photo und zitiert aus Zeitungskritiken verschiedener spanischer Städte, in denen sie
konzertiert hatte (siehe hier).
Hin und wieder fuhr sie nach Heidelberg, um dort in einem Landesstudio des Südwestfunks Produktionen zu machen, so dass gelegentlich ihre Aufnahmen im Radio erklangen. Auch zum
Saarländischen Rundfunk, an dem Gieseking viele Aufnahmen in seinen Saarbrückener Unterrichtsjahren gemacht hatte, unterhielt sie Beziehungen. Liszts berühmter Mephistowalzer oder seine Konzertetüden wie
Waldesrauschen und Gnomenreigen waren ihr ebenso geläufig wie viele Etüden Chopins; andere Stücke, an die ich mich erinnere, waren Beethovens Sonate op. 90, César Francks Präludium, Choral und Fuge oder Werke
von Karol Szymanowski. Von Selim Palmgren und Heimo Erbse spielte sie ebenfalls etwas, da man ihr wohl antrug, hierzulande Unbekannteres oder Zeitgenössisches aufzunehmen.
Wie es bei einer Schülerin Giesekings nahe liegt, verehrte Rothmund besonders Debussy und Ravel, und einmal verteilte sie alle zwölf Préludes des ersten Heftes auf die Schüler ihrer
Klasse. Wir spielten den Zyklus in einem Hauskonzert in ihrer Wohnung, und ich besitze noch eine kalligraphisch geschriebene und kolorierte Faltkarte, in die das mit Maschine geschriebene Programm eingeklebt ist.
Als Zeitpunkt ist nur 1962 angegeben; vielleicht führten wir den Zyklus später auch einmal öffentlich auf. Mir selbst fiel La danse de Puck zu, ein Stück, das mir hinsichtlich seiner ungewohnten Harmonik,
Rhythmik, Notation, Griffe und Fingersätze zunächst einiges Umdenken abverlangte, das mir in seiner Neuartigkeit, Launenhaftigkeit und den vielen kleinen musikalischen Überraschungen, die es bot, aber
schließlich so gut gefiel, dass ich es auswendig lernte. Allein all diese schönen Préludes mit ihren poetischen Titeln, die immer erst am Schluss der Noten anstatt am Anfang standen, einmal als Einheit zu hören
und mit ihrer ganz eigenen Sprache und Klangwelt zugleich auch pianistisch vertraut zu werden, war eine wichtige Erfahrung und Gewinn, gleichgültig, wie unfertig vieles noch gewesen sein mochte.
Fräulein Rothmund, wie ich sie nach damaligem Verständnis immer korrekt anredete, lebte zusammen mit ihrem Vater, einem ehemaligen Lehrer, im obersten Stockwerk eines großen
Mietshauses in K4, 20. (Die Quadratestadt Mannheim hat nur ausnahmsweise Straßennamen wie die Planken, Breite Straße oder Fressgasse; die wie auf einem Schachbrett angeordneten Häuserblocks sind seit vielen
Generationen nur mit Buchstaben und Ziffern bezeichnet, zu denen dann nur noch die Hausnummern zur Vervollständigung der Adresse treten.) Rothmund verzichtete bewusst auf eine Familie und gestand mir einmal,
dass es ihr schlicht unmöglich sei, sich vorzustellen, abends einem müde von der Arbeit heimkehrenden Ehemann die Bratkartoffeln aufzuwärmen. Dies waren etwa ihre Worte. Gleichwohl war nicht zu übersehen,
dass der ein oder andere Mann ein Auge auf sie warf und sie gerne zur Frau genommen hätte, denn sie war attraktiv und lebendig, hatte eine starke, selbstsichere Ausstrahlung, flirtete nicht ungern und machte des
öfteren kleine Anspielungen, die das Liebesleben ihrer zum Teil schon erwachsenen Schüler betrafen. Selbst ein älterer, graumelierter Herr war darunter, der seinen Unterricht, auch ohne geübt zu haben, sichtlich
genoss, und es wurde, soweit ich dies miterleben und beurteilen konnte, oft mehr gescherzt und geschwatzt als Klavier gespielt. Gleichviel taten sich ihre Verehrer manchmal schwer, den richtigen Ton
zu treffen, und griffen mitunter zu eigenartigen Methoden, sie zu beeindrucken. So erzählte sie mir, dass sie einmal nachmittags zum Tee oder Kaffee bei einem Herrn eingeladen war, der, um seine auch in
ihm waltende Liebe zur Musik unter Beweis zu stellen, eine Schallplatte von Smetanas Moldau aufgelegt und ihr dann das gesamte Stück zu den Klängen aus dem Lautsprecher vordirigiert habe.
Die oft gezeigte Souveränität Doris Rothmunds hatte allerdings ihre Grenzen, wie ich einmal erfahren musste, als ich unmittelbar vor dem Klavierunterricht einen Goldhamster gekauft
und diesen in einem Pappkarton mit etwas Futter in meiner Aktentasche verwahrt hatte. Unklugerweise, wenn auch arglos, erwähnte ich diesen Umstand, denn Doris Rothmund sprang wie von der Tarantel gestochen von
ihrem Stuhl auf, und es hätte wenig gefehlt, dass sie auf den Flügel oder den Stuhl geklettert wäre, um Schutz vor dem Untier zu finden. Aber Herbert …! Wie kannst du nur …! Sie war völlig
fassungslos und empört, wie ich ihr dies habe antun können, so etwas in die Klavierstunde mitzubringen, als habe es sich um einen zähnefletschenden Höllenhund und nicht ein harmloses eingesperrtes Tierchen
gehandelt, das kaum größer als eine Maus war. Vielleicht war es aber gerade diese Ähnlichkeit mit einer Maus, die sie so schockierte. Den Rest der Stunde wagte sie sich jedenfalls nicht mehr in die Nähe meiner
Tasche, sondern stellte sich so, dass ich mich stets zwischen ihr und der Tasche befand und sie letztere gut im Blick behielt, falls da etwas rascheln oder sich bewegen sollte.
Ich lernte in der Zeit bis zu unserem Umzug nach Stuttgart im Sommer 1966 eine große Zahl neuer Stücke und machte, da mir die Musik zunehmend Freude bereitete, innerhalb der
sechseinhalb Jahren Unterricht schnelle Fortschritte. Es begann mit Franz Schuberts Scherzo in B-Dur und endete mit Sergei Rachmaninows zweitem Klavierkonzert. Dazwischen lagen kleinere Werke von Bach, Sonaten
von Mozart und Beethoven, Moments Musicaux und Impromptus von Schubert, Etüden von Chopin und Liszt, Schumanns G-Moll-Sonate, die ich mehrfach aufführte, einzelne Stücke von Ravel und Debussy. Besonders
Liszts Klavierkonzerte und sein dramatischer Totentanz gefielen mir, zumal sie mir ziemlich gut in der Hand lagen, wie man das unter Pianisten nennt. Auch andere Klavierkonzerte wurden einstudiert, so das von Mozart
in Es-Dur KV 271 oder Mendelssohns G-Moll-Konzert. Nicht alles wurde ganz fertig und wie für einen Konzertauftritt vorbereitet, denn einiges überforderte meine Möglichkeiten doch noch zu sehr, und an
mehreren Stücken verlor ich nach längerem Üben das Gefallen, so dass wir lieber zu Frischem wechselten. Dabei merkten wir bald, dass sich frühere Fehler manchmal verloren und Hindernisse, an die man sich gar
nicht mehr erinnerte, gleichsam von selbst verschwanden, sobald die Musik und nicht die Fehler im Zentrum der Aufmerksamkeit standen. Andererseits versuchte ich mich an vielem, was mir an Noten in die
Hände kam, wobei allerdings noch nichts aus der Musik der Gegenwart stammte. Französische Impressionisten und einige Rumänische Volkstänze von Béla Bartók waren das jüngste, das mir in den Mannheimer
Jahren begegnete, auch wenn ich beides mit Freude spielte und es mir wohltat, nicht jedes Fehlerchen der Harmonik sofort als falsche Note hören zu müssen. An rein technischen Studien wurden besonders die Übungen
von Hanon empfohlen und gepflegt, wenn auch nicht als völlig unerlässlich erachtet. Höhepunkt konzertanter Aufführungen waren Beethovens Rondo für Klavier und Orchester, das ich einmal mit dem Orchester der
Hochschule im Kleinen Saal des Rosengarten aufführen konnte, und Joseph Haydns Doppelkonzert in F-Dur für Violine, Klavier und Streichorchester. Letzteres spielte ich 1962 zusammen mit dem etwas älteren Geiger
Björn Kommer aus der Klasse von Claire Imhof.
Sechstes Kapitel Doris Rothmund (Forts.)
Nach etwa einem halben Jahr Unterricht baute Rothmund Debussys kleinen Ragtime Le petit nègre in eines der Programme ihrer Klavierklasse ein, wie sie damals immer wieder einmal im
Vortragssaal der Mannheimer Kunsthalle stattfanden. Dieser kleine, aber gepflegte Konzertsaal, gegenüber von meinem Gymnasium und nahe dem Wasserturm im Zentrum gelegen, war für die Zahl der zu erwartenden
Zuhörer ideal. Auch Richard Laugs hörte ich in diesem Saal, zu abendlicher Stunde begleitet von meiner Mutter, mit späten Beethoven-Werken, darunter die Bagatellen und die Diabelli-Variationen; letztere
langweilten mich entsetzlich, und ich hatte, zum Leidwesen meiner Mutter, die größte Mühe, still zu sitzen.
Die höchste Stufe des damals in Mannheim Erreichbaren war allerdings ein Konzert im Rosengarten am Wasserturm, in dessen beiden Sälen ich gelegentlich gastierende Pianisten hören
konnte. In besonders guter Erinnerung ist mir Stefan Askenase mit einem Chopin-Abend geblieben, doch auch Konzerte von Wilhelm Kempff, Robert Casadeus oder Hans Richter-Haaser besuchte ich. Von einigen Musikern
holte ich mir, der Sammelleidenschaft eines bestimmten Alters folgend, Autogramme nach dem Konzert. Später hörte ich, ebenfalls im Großen Saal, auch manches Symphoniekonzert, wobei mir die Aufführungen mit Horst
Stein und Bernard Haitink am meisten gefielen. Für meine Laufbahn erwies sich der Besuch eines Klavierabends von Arno Erfurth bedeutend, der in der Zeit stattfand, als unser Umzug bereits feststand und ich die
Gelegenheit ergriff, einen an der Stuttgarter Hochschule lehrenden Pianisten im Konzert hören zu können. Erfurth spielte unter anderem Beethovens letzte Sonate, und wenn ich auch nicht hingerissen von seinem
Klavierspiel war, so kam er doch als erfahrener Pädagoge für den Übergang in Betracht, wobei man sich auf ein solides, traditionsbewusstes Handwerk verlassen konnte und hoffen durfte, dass er das bisher Erreichte
zumindest nicht verderben werde. Fand man Besseres, konnte man immer noch wechseln.
Bald nachdem ich Debussys Le petit nègre gelernt hatte, nahm ich, vermutlich noch 1960, an einem ersten kleinen Wettbewerb teil. Er wurde von einem der größten Mannheimer Kaufhäuser
am Paradeplatz veranstaltet und fand nachmittags zur Unterhaltung der Gäste im Restaurant des Hauses vor kuchenverzehrendem und kaffeetrinkendem, angeregt plauderndem und pausenlos mit Geschirr klapperndem Publikum
statt. Die Bedienung nahm Bestellungen auf, servierte und kassierte. Ich war nicht unzufrieden mit mir, war aber doch sehr überrascht und enttäuscht, als ich nur den achten Preis errang. Der erste Preis fiel
nämlich einem kleinen Jungen zu, der auf einer Trompete herumgequietscht und nach wenigen Minuten mit den Worten, er habe jetzt keine Lust mehr, das Podium unter dem Gelächter der Zuhörer verlassen hatte. Mit so
viel Albernheit hatte ich nicht gerechnet. So also ging es zu bei Wettbewerben. Jeder Teilnehmer erhielt ein billiges Abenteuerbuch mit handgeschriebener Widmung, dem Dank und den Empfehlungen des
Kaufhauses. Ich bewahrte es einige Jahre auf, warf es aber schließlich weg, da es immer wieder meinen Ärger wachrief, wenn ich es sah.
Meine Begeisterung für die Musik wurde durch dieses Ereignis freilich nicht gedämpft, sondern vermehrte sich stetig, und so hatte ich alsbald auch zu komponieren begonnen. Die
frühesten Stücke, die sich erhalten haben, entstanden im Frühling und Sommer 1961. Im Juli des Jahres schrieb ich eine viersätzige Sonate in F-Moll, die ich natürlich Doris Rothmund zueignete und deren
Manuskript ich ihr zu Weihnachten in den Briefkasten schob. Ich stellte aber für mich eine Abschrift her, die ich heute ebenso noch verwahre wie den Brief, den mir Doris Rothmund daraufhin schrieb. Es ist nicht die
einzige Komposition aus der Zeit bis 1963, die fertig wurde. Sicherlich waren diese ersten Arbeiten keine Meisterwerke, sondern weitgehend Imitationen von Stilen, die ich kannte, und wenn ich auch nicht sicher bin,
wie viel Talent sie zeigten, so wiesen sie sich doch zumindest durch Energie und Anspruch aus, nahmen beherzt den gesamten Umfang der Klaviatur in Gebrauch und zeigten auf ihre Weise, was es heißt, jung zu sein und
Kraft zu haben. Für mich war es ein Anfang und ein Bekenntnis zu einer Art des eigenständigen Lernens zugleich, da niemand mir gezeigt hatte, wie man so etwas wie eine Sonate schreibt. Ich hatte mich über alle
Vorgänge und Regeln belesen und mit dem verglichen, was ich in Noten fand, vor allem im ersten Band der Sonaten Beethovens. Eine wichtige literarische Quelle meiner damaligen Kenntnisse bildete Friedrich Herzfelds
1950 erschienenes Buch Du und die Musik. Ich entlieh es immer von neuem aus der Bücherei und las darin über das musikalische Handwerk und manch Biographisches über die Meister der Vergangenheit, ahnungslos, wie
sehr sein Verfasser noch Jahre zuvor dem Führer nach dem Mund geredet hatte..
Dass meine erste Sonate in F-Moll stand, hatte natürlich damit zu tun, dass schon Beethoven seine zweiunddreißig Klaviersonaten in dieser vielversprechenden Tonart begonnen hatte. So
tat ich es ihm nach, auch wenn – zum Glück – kein Beethoven aus mir wurde. Als nächstes wollte ich dann, dem Vorbild folgend, eine A-Dur-Sonate schreiben, aber dazu kam es schon nicht mehr. Zwar
füllte ich noch viele Seiten mit unterschiedlichsten Versuchen mit meiner eigens angeschafften schwarzen Tinte, die sich unbedingt vom Königsblau der Schultinte abheben und etwas unverwechselbar Eigenes sichtbar
machen sollte, doch blieb das meiste skizzenhaft, brach ab und gewann keine endgültige Gestalt. Der virtuose Einfluss Franz Liszts nahm teilweise stark Überhand und mündete in Konzertetüden, aber auch sie fanden
kein Ende. Es war ein langer Marsch durch die Sackgassen, wie ihn wohl bisweilen so mancher junge Künstler hinter sich bringen muss. Vielleicht hätte zu diesem Zeitpunkt ein erfahrener Kompositionslehrer meine
Versuche einmal sehen und etwas dazu sagen sollen, um mir aus meinen Schwierigkeiten und Verwirrungen herauszuhelfen, doch ich scheute den Schritt und wollte mir in diesen ganz privaten Dingen von niemandem etwas
sagen lassen. Der in Mannheim damals unterrichtende Komponist Hans Vogt war jedenfalls im Gespräch, aber ich habe ihn nie aufgesucht oder kennen gelernt. Schließlich hat es ja keinen Sinn, sich etwas auszumalen
und einzubilden, wenn sich etwas aus sich selbst heraus in eine andere Richtung entwickelt und sich von ganz alleine entscheidet. Was und wie es tatsächlich und wirklich geschah, war vielleicht ohnehin das Bessere
und, gab es je eine Wahl, von zwei Ãœbeln das kleinere.
Gelang es mir auch nicht in dieser Zeit, meine musikalischen Gedanken auf dem Papier festzuhalten und so zu ordnen, dass sie mich selbst überzeugten, so hatte ich doch zugleich begonnen,
frei auf dem Klavier zu fantasieren und mich mit den Klängen, die sich in unauflösbarer Einheit sowohl aus der Vorstellung wie aus der unmittelbaren, nächstliegenden Bewegung der Finger auf den Tasten, aus Wissen
und Versuchen, Bekanntem und Neuem ergaben, mehr und mehr anzufreunden. Es war so etwas wie das nie abschließbare Erlernen eines Vokabulars, das aus der Kenntnis der Buchstaben allmählich zu Sätzen und
übergeordneten Satzfolgen wächst und mit dem sich letztlich Eigenes, Stimmungen und Gefühle, ebenso ausdrücken lassen wie abstrakte Ideen. Meist ließen sich diese Bereiche aber gar nicht trennen.
Bald nach unserem Umzug nach Stuttgart im Sommer 1966 verlor ich den Kontakt zu Doris Rothmund. Ich war damals alles andere als ein guter Briefeschreiber und empfand es eher als
Last, von dem, was mich bewegte, jemandem schriftlich zu berichten. Gerade im Bereich der Musik hatte ich wenig Bedürfnis, ins Einzelne Gehendes über meine Gedanken, Fortschritte oder Rückschritte,
Hoffnungen und Wünsche, Enttäuschungen, Zweifel und Ängste zu sagen, schon gar nicht in einer Form, die etwas Momentanes festhielt und vielleicht sogar zu Rückfragen und einer gewissen Regelmäßigkeit
verpflichtet hätte. Es gab genug Aufgaben, die erfüllt sein wollten, und mein Freiraum schien mir ohnedies zu knapp bemessen. Zu solchen Mitteilungen bedarf es vor allem der Lust, andere teilhaben zu lassen am
eigenen Leben, sonst wirken sie förmlich und bleiben an der Oberfläche. Doch zu viel war zu verarbeiten, das in den letzten Monaten und Jahren in Mannheim geschehen war, und gleichzeitig gab es so
viel Neues, das durch unseren Umzug, die veränderten Familienverhältnisse mit der Neuverheiratung meines Vaters, den Schulwechsel, das Leben in der Landeshauptstadt oder das bevorstehende Abitur bedingt war.
Mehrfach habe ich im Laufe meines Lebens bemerkt, dass ich, trotz einiger Versuche in dieser Richtung, keine wirkliche Neigung entwickelte, zu alten Lehrern oder zu Orten, an
denen ich einst gelebt hatte, zurückzukehren, und erachtete es eher als einen mich abstoßenden und ungesunden Vorgang, das unwiederbringlich Vergangene zu suchen, ohne durch besondere Umstände dazu gezwungen
zu sein. Es glich einer Rückkehr in den Mutterschoß, einem Rückschritt in der Entwicklung und zeugte von geistigem Anlehnungsbedürfnis. Bei Lehrern, auch denen, die man hochgeschätzt hatte, schlüpfte man,
mochten sie sich noch so aufgeschlossen, tolerant und liberal geben, unversehens wieder in die alte Beziehung zwischen Schüler und Lehrer, ähnlich der Art und Weise, wie man vielleicht immer Kind seiner Eltern
bleibt und wie beide Teile die ursprüngliche, allein durch den Altersunterschied vorgegebene Überlegenheit verinnerlichen. Hier meinem Instinkt zu trauen und Lehrer nach der Lehrzeit besser zu meiden, schien mir
das einzige Verhalten, das die Schönheit und Fruchtbarkeit des Unterrichts, aber auch die gewonnene Selbständigkeit bewies. Die Kunst des Lehrertums besteht nun einmal darin, sich überflüssig zu machen, nicht
darin, eine lebenslange Abhängigkeit zu stiften. Das Du, das mir gelegentlich angeboten wurde und das abzulehnen ich nie die Unhöflichkeit besaß, kam mir immer schwer über die Lippen, denn das einst
vorhandene Gefälle aus dem Mehr an Alter, Erfahrung und Macht lässt sich nicht mit einer Änderung der Anredeform nachträglich ausgleichen, selbst oder gerade dann nicht, wenn der Schüler in manchen Dingen
andere Wege eingeschlagen hat und über seinen Lehrer gewissermaßen hinausgewachsen ist.
Ein ähnlich ungutes Gefühl trat gegenüber Orten, an denen ich vormals gewohnt hatte, zu Tage. Die wenigen Male, da ich an solche zurückkehrte, waren immer enttäuschend und
entsprachen meinen Erinnerungen so wenig, dass ich es künftig lieber sein ließ. Niemand kannte mich, ich kannte niemanden, alles war anders, selbst das Nass des Wassers, das Blau des Himmels und das Grün der
Blätter. Nichts hatte seine Frische, seinen Zauber behalten. Allein schon das Wissen, dass die Stelle meines Geburtshauses und unseres Gartens in Treysa durch einen Parkplatz ersetzt und das schöne Sinsheimer
Wohnhaus ebenfalls abgerissen worden seien, weckte mich aus meinen Träumereien, und ich erkannte die Gefahr, mir jene Erinnerungen, die ein Teil meiner Vergangenheit und in gewisser Weise mein unverbrüchlicher
Besitz waren, durch eine jüngere Wirklichkeit ganz ohne Not entfremden, enteignen oder zerstören zu lassen.
So sah ich Doris Rothmund nicht wieder, erfuhr auch nicht, dass sie an multipler Sklerose, einer unheilbaren Krankheit unbekannten Ursprungs litt, und hörte von ihrem Tod im Juli 1979
erst spät und nur auf Umwegen. Ich lebte damals fast schon neun Jahre in Köln, und meine letzte Brücke zu Mannheim war Peter Vaith, der in Köln Medizin studiert hatte, dessen Eltern nach wie vor im Mannheimer
Stadtteil Lindenhof lebten und dessen Mutter einst eine Klassenkameradin von Doris Rothmund gewesen war. Vermutlich habe ich auch durch ihn die Nachricht von ihrem Tode erhalten. Ich erinnerte mich nun, dass
Doris Rothmund gegen Ende unserer Mannheimer Zeit gelegentlich leicht gehinkt hatte, und mein Vater oder auch Peter Vaith, mit denen ich damals darüber sprach, deuteten dies nachträglich als mögliches frühes
Symptom der schleichenden Krankheit, deren Opfer sie wurde.
Ich las nun den Brief mit etwas anderen Augen, den sie mir als letzten kurz vor dem Jahreswechsel 1966/67 nach Stuttgart geschickt hatte. Sie antwortete damit auf einen Brief, in dem ich
ihr von meinen ersten Begegnungen mit Arno Erfurth und dem bei den Wiener Klassikern verharrenden Unterricht bei ihm berichtet hatte, und bedauerte, mich nun auf so magere Kost gesetzt zu sehen. Ihr würde die
Energie hierzu gefehlt haben, da sie selbst zu viel Freude an schwieriger Literatur habe, meinte sie. Von sich erzählte sie, dass sie für Konzerte in Heidelberg und Brüssel arbeitete und versuchte, Szymanowskis
Métopes auswendig zu lernen. Am Ende des Briefes erwähnte sie, teilweise schon auf den Rand geschrieben, dass sie sich gerade für Untersuchungen im Krankenhaus habe aufhalten müssen und dass man das
Schlimmste befürchtet habe. Die Befunde seien aber zum Glück günstig ausgefallen, so dass sie wieder entlassen worden sei. Nur das Klavier habe ihr über diese fürchterlichen Tage hinweggeholfen, und ihre stumme
Klaviatur habe sie mit sich ins Krankenhaus genommen.
Das einzige auffindbare Lexikon, das etwas Biographisches über Doris Rothmund verzeichnet, scheint Kürschners Deutscher Musiker-Kalender 1954 zu sein, der Folgendes mitteilt (ich löse
die Abkürzungen stillschweigend auf): „Rothmund, Doris, Pianistin. Geboren am 26. XII. 1926 Mannheim - Elisabeth-Schule ebenda (Abitur) - Musikstudium: 1944 Musikhochschule Mannheim, 1946 Musikhochschule
Heidelberg bei Richard Laugs und Martin Steinkrüger (Klavier), 1951 Meisterklasse Walter Gieseking daselbst - ab 1945 Konzertreisen, ab 1953 Lehrerin Musikhochschule Mannheim - Gedok [Gemeinschaft
Deutscher und Oesterreichischer Künstlerinnenvereine aller Kunstgattungen] - Mannheim, K.4.20.“ Hans-Peter Range nennt sie 1964 in einer Liste im Anhang seines Buches über die Konzertpianisten der Gegenwart.
Ein Nachruf erschien am 21. Juli 1979 im Mannheimer Morgen unter der Überschrift: Pianistin und Pädagogin Doris Rothmund gestorben. (Webseite über Doris Rothmund.)
Siebentes Kapitel Familienleben, Familiensterben
Überblicke ich unsere Mannheimer Jahre als einen größeren, in sich geschlossenen Abschnitt meiner Jugend, ergibt sich ein zweigeteiltes Bild mit einer helleren und einer dunkleren
Hälfte. Dies mag zwar ebenso für alle anderen Zeiten gelten, doch sind die Gegensätze hier stärker, das Lichte strahlender, der Schatten tiefer als in späterer Zeit. Ich weiß, ein solches Bild ist eine
nachträgliche Sehensweise, wie sie im Augenblick des tatsächlichen Erlebens gar nicht möglich ist, ein Vergleich, der sich erst im erinnernden Gegeneinanderhalten anstellen lässt. Man wusste ja in keinem
Augenblick, wie der folgende aussehen wird, und täglich mischen sich die Gegensätze neu in unabsehbarer Weise. Hinzu kommt aber wohl auch, dass in der Jugend alle Eindrücke frischer und stärker erscheinen. Alles
ist auf seine Weise unbekannt und unterliegt noch keiner die Wirkung abschwächenden Wiederholung wie in höherem Alter, wenn man alles Geschehen durch die Erinnerung an bereits Erlebtes besser einordnen, auf seine
Erfahrungen zurückgreifen und sich in gar manchem leichter behelfen kann.
Gehörten die Sinsheimer Jahre mehr dem kindlichen Spiel im Freien, außerhalb des Hauses und einer Zeit an, die gegenüber der fast still stehenden in Treysa nur ganz unmerklich und
sachte verstrich, so schien sich in den Mannheimer Jahren alles zu beschleunigen und im Innern der Häuser stattzufinden. Die körperlichen und geistigen Kräfte wuchsen, entfalteten sich und forderten ihr je
eigenes Recht. Ein reiches Angebot an Schulen, Konzertsälen, Theatern, Opernhaus, Büchereien, Museen, Sammlungen und vielen anderen Einrichtungen kam in der Großstadt dem Lern- und Wissbegierigen in jeder
Weise entgegen, überforderten ihn sogar, und die unterschiedlichsten Geschäfte mit ihren anspruchsvollen, luxuriösen Sortimenten konnten alle Wünsche, die sich regten, befriedigen, ja ließen sie zum Teil erst
durch ihre Auslagen entstehen. Neigungen und Begabungen bildeten sich jetzt deutlicher aus, gewannen festere Form und mündeten schließlich in eine Berufswahl, die, auch wenn sie gewagt schien, keineswegs
leichtfertig und ohne Bedenken, dafür aber mit dem notwendigen Selbstbewusstsein und einer guten Portion nicht minder verzichtbarem Optimismus getroffen wurde.
In Mannheim fand jedenfalls das statt, was meinen weiteren Lebensweg prägte: die Abwendung von der
Chemie und Hinwendung zur Musik, denn in letzterer erblickte ich mehr und mehr meine Zukunft. Den württembergischen Pietismus des 18. Jahrhunderts und Frickers Arbeiten lernte ich jedoch nicht durch meine
in Stuttgart verbrachten Jahre kennen (auch wenn dies nahezuliegen scheint), sondern erst durch einen Zufall, als ich in Köln lebte. In Köln führte ich 1970 das in Stuttgart nach dem Abitur begonnene
Musikstudium fort, und hatte sich meine Achtung vor der „Neuen Musik“ zunächst in Stuttgart durch den Einfluss von Erhard Karkoschka und Helmut Lachenmann abgezeichnet und schließlich sogar meinen
Wechsel nach Köln bewirkt, so konnte ich hier in Köln das Erfahrene unmittelbarer erleben und meine Einsicht in die zeitgenössische Musik vergrößern. Die Mannheimer Zeit zeigte indes den Beginn eines sich über
die Jahre hin fortschreitenden Verständnisses, worum es in der Musik ging und was sich in ihr spiegelte, wenngleich auch Irrtümer immer wieder zu ihrer Begleitung gehörten.
Andererseits ging nun in Mannheim dieses innere und äußere Wachstum mit Entwicklungen in unserer Familie einher, die all dies nachhaltig bedrückten und betrübten. Öffneten sich
auf der einen Seite die großen Tore von Kunst und Wissenschaft, wurde zu Hause die Welt enger und enger. Die Entfremdung meiner Eltern nahm mehr und mehr zu, und nur die Krankheit meiner Mutter verhinderte die
anstehende Scheidung. Meine Mutter, die stets nur ihre hausfraulichen und elterlichen Pflichten erfüllt und keinen Beruf erlernt hatte, bereitete sich auf die Trennung vor, indem sie, um später als Sekretärin
arbeiten zu können, Abendkurse in Stenographie und Schreibmaschine an der Volkshochschule belegte. Zusätzlich suchte sie ihre bereits bestehenden Kontakte zum Roten Kreuz zu festigen und informierte sich
über Lehrgänge für die dort benötigten Hilfskräfte; auch ein Lehrbuch, das der Ausbildung von Schwesternhelferinnen diente, sah ich damals öfters bei ihr.
Die Spannungen, die diese Schritte und Maßnahmen auslösten, waren entsetzlich. Fast täglich gab es Auseinandersetzungen und Demütigungen, Beleidigungen, Wutanfälle, Verletzungen,
Kränkungen. Folgten Versöhnungen, Rechtfertigungen und Entschuldigungen, schloss sich der Teufelskreis nach kurzem wieder, und alles begann von vorne. Aus den nichtigsten Anlässen heraus entzündete sich Streit,
und es war deutlich, dass es nicht um die Sache ging, um die gestritten wurde. Tiefer Liegendes kam an die Oberfläche, das womöglich über viele Jahre hinweg im Verborgenen sich angesammelt hatte. Es schien einzig
noch darum zu gehen, dem Stau der Gefühle erneut freien Lauf zu gönnen, der inneren Zerbrochenheit die Zügel endlich wieder schießen zu lassen und gleichsam die Enttäuschungen, das Entgangene, Unerreichte und
Unerreichbare, Unerfüllte und Unerfüllbare, kurz die eigene Unzufriedenheit dem anderen aufzubürden und vorzuwerfen, als liege hier die Ursache des ganzen Übels und allen eigenen Versagens. Doch jeder neue
Ausbruch verschlimmerte zugleich das schlechte Gewissen und die eigene Schuld und schürte untergründig das Feuer. Wir lebten in einem Krieg, in dem auch während eines zeitweiligen Waffenstillstands ein erneutes
Aufflammen der Kämpfe stets zu befürchten war.
Angesichts der ständigen Reizbarkeit und Ausbrüche meines Vaters und dem Nachgeben, Hinnehmen und Sich-Zurückziehen meiner Mutter war schnell klar, dass wir Kinder die Partei unserer
Mutter ergriffen und uns gegen den Vater stellten. Dies fand seinen sichtbaren Ausdruck in den großen Ferien im Jahre 1965 darin, dass mein Vater erstmals allein verreiste und wir Kinder zusammen mit unserer Mutter
drei Wochen an den Bodensee fuhren. Im Jahr zuvor war es zur Urlaubszeit bereits zu einer ersten Verschiebung gekommen, als meine Mutter zusammen mit meiner Schwester und mein Vater zusammen mit mir verreist
waren. Es war in der Zeit unserer letzten gemeinsamen Ferien, dass meine Mutter erneut zu kränkeln begann, nachdem sie im Jahr zuvor bereits einmal im Krankenhaus gelegen hatte. Man hatte sich auf Besserung, ja
Heilung eingestellt; vom Sterben hatte damals noch niemand gesprochen. Doch dann begannen die unerbittlichen Schmerzen von neuem und wurden größer und größer.
Achtes Kapitel Ein Flugzeug, ein Schiff und das liebe Geld
Nach einigen Jahren in Mannheim und vertrauterem Umgang mit den übrigen Angestellten des Gefängnisses gewöhnte sich mein Vater an, jeden Freitagabend mit einigen höheren Beamten,
darunter auch dem Direktor der Haftanstalt, in der am Eingangstor gelegenen Kantine Doppelkopf zu spielen und dabei dem Pfälzer Wein in reichlichem Maße zuzusprechen. Dies zog sich stets bis spät in die Nacht
hin, und gewöhnlich waren wir eingeschlafen, ehe er nach Hause zurückkehrte. Manches unschöne Verhalten entsprang dieser Herren-, Karten- und Zecherrunde, das ich lieber mit Schweigen übergehe.
Seine übrigen Abende verbrachte mein Vater, sofern er nicht seine Gutachten schrieb, eine ganze Zeitlang in der Küche, wo er plötzlich eine schier endlose Bastelleidenschaft
entfaltete. War der Tisch nach dem Abendessen abgeräumt, holte er große Kartons und Werkzeug hervor und begann als erstes, ein aufwändiges Modellflugzeug zu bauen, nicht nach eigenen Entwürfen, sondern mit einem
Bausatz und nach genauen Anleitungen. Die Maschine, eine einmotorige Piper, bekam einen benzingetriebenen, ohrenbetäubenden Propellermotor, den mein Vater, zur Freude der Nachbarn, einmal mitten in der Nacht
startete. Da das Modell sich nicht steuern ließ, musste es an einem dünnen Drahtseil gehalten werden, und man konnte es dann mit Hilfe eines hölzernen Griffs in engerem oder weiterem Kreis um sich herum
fliegen lassen. Damit erschöpften sich seine Möglichkeiten.
Als alles für den Jungfernflug bereit war, begleitete ich meinen Vater zu einer Wiese zwischen der Gefängnismauer und dem Zaun des Gaswerks, da er nicht gleichzeitig den Motor
starten und das Seil, welches das Flugzeug am Davonfliegen hinderte, festhalten konnte. Etwas neugierig war ich natürlich auch, das Ergebnis so vieler Arbeit zu sehen. Doch alle Mühe war vergebens gewesen. War der
Motor endlich angeworfen, drehte sich die Maschine nur brummend um sich selbst, hob aber keinen Millimeter vom Boden ab. Ihr Gewicht war zu groß geworden, denn zuletzt hatte mein Vater das Modell, um es zu trimmen,
eigenmächtig mit großen Bleioliven aus seinem Angelkasten versehen, was sicher nicht in den Berechnungen und Vorschriften der Hersteller eingeplant war. Auch Nachbesserungen nutzten nichts, das Flugzeug flog nie.
Auch bei dieser Bastelarbeit verbarg mein Vater sein persönliches Interesse, indem er mich vorschob und mich zunächst zur Auswahl eines Modellbaukastens in ein
Spielzeuggeschäft mitnahm. Dies hielt ihn keineswegs davon ab, die gesamte Arbeit des Zusammenbaus von Anbeginn an sich zu ziehen, und es wiederholte sich das bei der Modelleisenbahn kennengelernte Verfahren,
meine Rolle auf anfallende Handlangerdienste, im Wesentlichen aber aufs Zusehen zu beschränken. Er kannte sich ja mit Flugzeugen durch die Segelfliegerei aus, die er in seiner Marburger Studentenzeit als Hobby
betrieben hatte und die im Sinsheimer Wiesental noch einmal für kurze Zeit wiederauflebte. Dies war mir nicht so unlieb, wie man denken könnte, denn im Grunde langweilten mich Flugzeuge, besonders wenn man sie
wie einen Drachen immer an einer Schnur halten musste und sie sich nur im Kreis bewegen konnten. So sah ich ziemlich unbeeindruckt das Gerät heranwachsen und bedauerte es sogar, dass der Erfolg des
eigentlichen Fliegens nach so vielen Anstrengungen schließlich ausblieb.
Doch der Rückschlag dämpfte die neue Leidenschaft meines Vaters keineswegs. Eher stachelte der Misserfolg seinen Ehrgeiz an, und es schien, als sei er jetzt erst richtig auf den
Geschmack gekommen. Von der Luftfahrt wechselte er zur Marine. So war sein nächstes zu bastelndes Werk und Projekt das Modell des ferngesteuerten Seenotrettungskreuzers „Theodor Heuß“, dessen
Besonderheit darin lag, ein sogenanntes Tochterboot an Bord zu haben, welches nach dem Absenken einer Heckklappe gewassert, separat gelenkt und dann wohl auch wieder eingeholt werden konnte. Der Bau an diesem
keineswegs billigen Schiff, dessen Original sich nach dreißig Dienstjahren heute im Deutschen Museum in München befindet, zog sich über viele Wochen hin, und des Sägens, Feilens, Klebens, Schmirgelns,
Grundierens und Lackierens war kein Ende.
Auch hier bedurfte es einer Rechtfertigung, dem untätigen Rest der Familie die Angelegenheit plausibel erscheinen zu lassen. Diesmal wehrte die langjährige, von Kindheit an geübte
Passion meines Vaters, angeln zu gehen, jedem Verdacht unnützer Spielerei. Da ich ihn in dieser Zeit gewöhnlich zum Angeln begleitete, kam das Schiff aber natürlich auch mir zugute, zumindest indirekt. Die
Theodor Heuß sollte nämlich so eingerichtet werden, dass sich an ihr die Angelschnur befestigen ließ und sie ferngesteuert den Köderfisch an eine geeignete, hechtverdächtige Stelle des Gewässers ziehen sollte,
die durch Auswurf der Angel unerreichbar war. Am Ziel angekommen ließ sich die Schnur per Knopfdruck ausklinken, und das Schiff konnte zurück ans Ufer gesteuert werden.
Als wieder alles fertig war, wurde die Theodor Heuß auf einem Altrheinarm bei Lampertheim, nördlich von Mannheim, getestet, doch füllte sie sich unmerklich mit Wasser, bekam
Schlagseite und wurde plötzlich manövrierunfähig. Zum Glück hatten wir unsere Angeln dabei und konnten den Havaristen mit Hilfe eines rasch ausgeworfenen Blinkers rechtzeitig vor dem drohenden Untergang
bewahren. Abgedichtet und verbessert wurde der Kreuzer auch einige Male für den beschriebenen Zweck eingesetzt, gleichwohl war der technische Aufwand zu groß, und die erhoffte kapitale Beute blieb aus, da
zunächst einmal jeder Fisch Reißaus nahm, sobald sich das Boot mit seinem starken Elektromotor näherte.
Auch dieses Schiff berührte mich nur wenig. Begriff ich zwar noch das Vergnügen, ein solches Werk in die Tat umzusetzen und Schritt für Schritt unter den Händen heranwachsen zu
sehen, war mir die Beschäftigung mit dem Fertigen gänzlich fremd und peinlich, und ich verstand es nicht, wie man sich mit seiner kleinen Steuereinheit an ein Brückengeländer stellen oder ein Ufer setzen konnte,
um nun das Schiff vor staunend beeindruckten Spaziergängern seine stolzen Runden ziehen zu lassen. Doch jedem seine eigene Spielerei, solange ich sie nicht teilen muss.
Was an diesen Basteleien weit mehr verdross als die vergleichsweise harmlose Zurschaustellung handwerklicher Fertigkeiten und teuren technischen Besitztums, war der Umstand,
dass mein Vater nicht nur uns Kinder, sondern selbst meine Mutter mit ihrem monatlich zuerteilten Haushaltsgeld ständig zur Sparsamkeit anhielt und es wegen echter oder vermeintlicher Verstöße gegen diese
Tugend immer wieder zu Streit kam. Als eines Tages das Gestell meiner Brille entzwei brach und ich ein neues brauchte, bekam er einen regelrechten Wutanfall, da die Kosten für den Ersatz etwas höher ausfielen, als
er es sich vorgestellt hatte, und dies, obwohl die sogenannte Beihilfe, bei der er als Beamter alle nicht von der Krankenkasse übernommenen Beträge einreichen konnte, gewöhnlich die Defizite beglich.
So wurde einerseits selbst bei notwendigen und kleinen Ausgaben gerechnet und gerechtet, während andererseits für die kostspieligen Liebhabereien, und zwar nicht nur die Basteleien,
sondern mehr noch die fast alljährlich erneuerten Autos und ihre Pflege oder alles, was mit der Angelei zusammenhing, stets Mittel vorhanden waren, ohne dass ein Wort darüber verloren wurde. Das passte nicht
zusammen, ergab ein schlechtes Vorbild, und es war offensichtlich, dass hier mit zweierlei Maß gemessen wurde. Darüber hinaus verdiente mein Vater gut, angesichts seiner Nebentätigkeit sogar überdurchschnittlich
gut, und er hatte keinen Grund, die Pfennige zu zählen. Geld war freilich ein Thema, dem er ebenso wie Fragen der Politik lieber aus dem Wege ging, und er beschränkte sich auf Andeutungen und Bemerkungen zu
gegebener Zeit und aus gegebenem Anlass, und man hatte stets den Eindruck, er habe in diesen Punkt etwas zu verbergen und wolle sich nicht in die Karten schauen lassen.
Nach dem Tod meiner Mutter nahm diese Empfindlichkeit in Geldfragen jedoch eine unerwartete Wendung. Mitunter schlug sie sogar ins Gegenteil um und machte einer manchmal ins
Verschwenderische gehenden Großzügigkeit Platz, die nunmehr allerdings einen unvermeidlichen Beigeschmack von Kompensation, Ausgleich, Wiedergutmachung, ja selbst etwas von Bestechung erhielt und daher ebenfalls
nicht geheuer war. Zu viel Unsauberes, Erniedrigendes hatte sich in den Jahren zuvor angesammelt, und mein Vater wusste, dass wir Kinder bei einer Scheidung guten Grund gehabt hätten, lieber zu meiner Mutter
zu ziehen, als bei ihm auszuharren und seine Launen zu erdulden. Diese neue Großzügigkeit bewährte sich weniger im Alltag, als dass sie zunächst in einem Übermaß von Weihnachtsgeschenken
sich entlud und gleichsam zum Zeichen wurde, dass die schlechten Zeiten nun endgültig vorüber seien. Doch es waren keine Geschenke und nichts Materielles, Käufliches, das wir in der Vergangenheit vermisst
hatten. Gemangelt hatte es vor allem an Aufrichtigkeit, an Übereinstimmung von Wort und Tat, gefehlt hatte es an Verständnis und Zuneigung. Das Versäumte ließ sich nicht mit Geschenken aus der Welt schaffen,
zumal sie in diesem besonderen Fall sichtlich auch dazu dienten, die neue Frau meines Vaters zu beeindrucken.
Erst im Laufe der Jahre gelang es meinem Vater, ein ausgewogeneres Verhältnis zum Geld und seinem Nutzen zu entwickeln, was ihm wohl umso leichter fiel, als er sich bei steigenden
Einkünften und stetig sich mehrendem Wohlstand längst nicht mehr um seine finanzielle Zukunft zu sorgen brauchte. Und dass meine Schwester nach Frankreich zog und heiratete und ich etwa ab Mitte der siebziger
Jahre eigenes Geld verdiente, entlastete ihn zusätzlich.
Da sich in den Mannheimer Tagen mein Taschengeld aber noch in engen Grenzen hielt und ich gut haushalten musste, um mir wenigstens einen Teil meiner vielen Wünsche erfüllen zu können,
versuchte ich seinerzeit, gleich vielen anderen Heranwachsenden, meine Finanzen aus eigenen Kräften aufzubessern. Ich erteilte Nachhilfeunterricht in den unterschiedlichsten Fächern, arbeitete eine Weile als
Kegeljunge oder verteilte Werbung in Briefkästen, je nachdem, was sich bot, denn jede Mark war willkommen.
Neuntes Kapitel Tod der Mutter
Nachdem im Februar 1966 meine Mutter schon über vier Monate im Krankenhaus gelegen hatte, weckte mich mein Vater eines Sonntagmorgens. Er hatte gerade einen Anruf aus dem Krankenhaus
erhalten. Meine Mutter war in der Frühe gestorben. Mit meiner Schwester zusammen fuhren wir zum Krankenhaus und gingen die endlosen, uns längst vertrauten Gänge zum Zimmer meiner Mutter. Es war bereits leer. Eine
Krankenschwester gab uns einige, wenige Habseligkeiten, die ihr gehört hatten, und beschrieb uns für den Fall, dass wir sie noch einmal sehen wollten, den Weg zu dem Raum, in dem sie nun lag. Wir gingen hinunter
und nahmen Abschied.
Erste Eingabe ins Internet: Dienstag, 20. April 2004
Letzte Änderung: Freitag, 29. April 2016
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