Der Treysaer Kurs

 

Der Treysaer Kurs

 

 

von
 

Herbert Henck

 

 

Der Kurs war eine Veranstaltung von Fachmedizinern wie Psychologen, Neurologen oder Psychiatern in Hephata, die in der ersten Häfte der fünfziger Jahre stattgefunden haben müsste. Dieser Kurs wurde von meinem Vater zwar in nicht maßgeblicher, aber doch in gewisser Hinsicht in verantwortlicher Position betreut. Die Verantwortung betraf Dinge, welche die Mitwirkung meines Vaters als eines mit der Materie Vertrauten, aber auch die Verwaltung und Auszahlung der Finanzen angingen. Den genauen Titel dieser Tagung habe ich nicht in Erinnerung, weiß aber, dass mein Vater selbst in späteren Jahren noch manchmal auf den Kurs in Treysa zu sprechen kam, wenn er ihn auch nur beiläufig erwähnte, da er bei uns eine eingehendere Bekanntheit voraussetzen konnte.

Als Referenten waren unter anderen Prof. Robert Heiß oder Dr. Hildegard Hiltmann aus Freiburg im Breisgau eingeladen, wobei ich nicht weiß, ob sie beide diese Titel schon damals führten. Willi Enke stand als Leitender Arzt und Nachfolger von Wittneben im Zentrum der Aufmerksamkeit, und ihm war vermutlich auch der Anstoß zu diesem Kurs in Hephata zu danken. Für meinen Vater, der damals etwa Anfang dreißig gewesen sein müsste, bildete der Kurs die willkommene Gelegenheit, mehreren Persönlichkeiten, die er nur aus ihren Veröffentlichungen kannte, persönlich zu begegnen und ihre neueste Sicht der medizinisch-psychiatrischen Hintergründe und Behandlungsweisen in Vorträgen zu erfahren. In diesem Kreis von Wissenschaftlern und Medzinern bezog man sich jedoch stets auf die Lehren Ernst Kretschmers oder die Errungenschaften der Schüler von Zulliger, um die Namen derer zu erwähnen, die mein Vater zwar öfters nannte, die ich aber auch im Zusammenhang mit dem Kurs in Treysa behalten habe. Das Verwenden von Tests zur Diagnose der Patienten spielte hierbei wohl eine bedeutendere Rolle.

Mein Vater schrieb in sauberer Schrift ein größeres, zum Transport aufgerolltes festes Plakat, wozu er Tusche und auch mehrere Buchstaben-Schablonen zu Hilfe nahm, doch kann ich nicht mehr sagen, was eigentlich auf dem Papier stand, da alles vor meiner Erlernung der Schrift geschah.

Lange bastelte er an einem elektrischen Kasten, dessen Ausführung er sogar in Sinsheim wiederholte, und wenn mir auch seine Funktion nicht ganz einsichtig war, kann ich mich doch entsinnen, dass er so etwas wie die Verzweigung von Nervenbahnen, wahrscheinlich innerhalb des Gehirns, demonstrierte. Auf der größten Seite des hölzernen Kastens steckte eine Vielzahl von kleinen Glühbirnen (vielleicht an die zwanzig) in Bohrungen, verteilt über die gesamte Fläche und bis auf ihre Spitzen verdeckt von einer kräftigen Sperrholzplatte, in die sie eingelassen waren. Diese Birnchen ließen sich über mehrere Druckschalter an einer Schmalseite des Kastens in verschiedenen Gruppen ein- und ausschalten. Alle Birnchen wurden von einem „Trafo“ im Inneren des Kastens mit Strom versorgt, von dem ein Netzkabel nach außen zu einer Steckdose und ggf. über eine Verlängerungsschnur ging.

Wie ich später erfuhr, ereignete sich ein Mißgeschick am Ende des Kurses, als mein Vater die Honorare für während des Kurses erbrachte Leistungen zur Auszahlung erhalten und als Bargeld in einer Aktentasche mit sich führte. Onkel Fritz, wir ihn nannten, kam plötzlich abends zu Besuch, störte aber meinen Vater, der wegen seiner Abrechnungen keine Zeit hatte, so dass sich Fritz etwas unwillig wieder erhob und ging. Dabei verwechselte er seine eigene Aktentasche, die er bei sich trug, mit der meines Vaters. Als man die Verwechslung bemerkte, war Fritz längst schon in der Dunkelheit verschwunden, und ihn bei Nacht zu suchen, war sinnlos. Zum Glück fand man ihn am nächsten Morgen schlafend auf einer Bank im Freien, wo er die Aktentasche meines Vaters unversehrt in den Armen hielt.

Auch etwas anderes ist mir noch im Rahmen des Treysaer Kurses in Erinnerung, denn Enke sollte dort einen Vortrag halten, mit dem er nicht so, wie es sein sollte, zufrieden war. Ob ihm nur der Raum nicht gefiel, in welchem der Vortrag stattfinden sollte, oder er innerlich unzufrieden war mit sich und wie er das Thema behandelte, weiß ich nicht. Als der Tag des Vortrags jedoch kam, soll Enke im Schnee ausgerutscht und mit seinem weißen Arztkittel in einen Hügel mit Kohlen gefallen sein, so dass dieser Vortrag abgesagt werden musste, was zur Wiederbelebung des Schlagworts von der „Freudschen Fehlleistung“ führte.

Eines weiteren Missgeschicks sei dabei gedacht, das freilich nicht mit dem Kurs zu tun hatte, aber gelegentlich zur Sprache kam und für das ich keinen besseren Platz fand. Einer der Ärzte in Hephata hieß Liwald, und er legte größten Wert auf die Sauberkeit seiner weißen Kleidung als Arzt. Nun bekam der Chefarzt von Hephata jeden Tag ein Tablett mit der Kost für die Patienten gebracht – ein Probe-Essen. Da es aber offenbar keinen Platz für dieses Tablett gab, musste es auf einem Sofa abgestellt werden. An diesem Tag gab es Spiegeleier und Spinat. Da kam Liwald in das Zimmer, besprach etwas mit dem Chefarzt und setzte sich, wie schon mehrfach, auf jenes Sofa; doch hatte er sich zuvor nicht vergewissert, dass der Platz, wo er sich niederließ, auch wirklich wie in der Vergangenheit frei sei. So setzte er sich mit seiner weißen Kleidung mitten auf das Tablett, fuhr sogleich aber wieder in die Höhe, doch es war zu spät. Einmal mehr wurde Murphys Gesetz im voraus bestätigt.


hauptsächlich 2013

 

Erste Eingabe ins Internet:  August 2015
Letzte Änderung:  Samstag, 18. Juni 2016

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