Im Schatten des Genius
Darmstädter Tagebuch 1974 mit einem Exkurs nach la Ste. Baume
Teil 1
von
Herbert Henck
Teil 1: 21.–30. VII. 1974 Teil 2: 31.VII. –7. VIII. 1974
Die nachstehenden Tagebuchaufzeichnungen halten Ereignisse aus den knapp dreiwöchigen »Darmstädter Ferienkursen« im Jahre 1974 fest. Ich studierte
seinerzeit noch bei Aloys Kontarsky und Wilhelm Hecker an der Kölner Musikhochschule Klavier und Liedbegleitung und nahm an den Ferienkursen als Assistent Kontarskys teil.
Stockhausen lernte ich Anfang 1972 näher kennen und verfasste in der Folge eingehende Analysen seiner Klavierstücke IX und X, zu
letzterem Werk auch eine farbige Hörpartitur, nahm gelegentlich an seinen Seminaren teil und wirkte auch mehrfach in Konzerten oder Aufnahmen seiner Musik mit. Für eine Aufführung seines Alphabet für Liège,
die Ende Juli 1974 in la Ste. Baume in der Nähe von Marseille stattfinden sollte, war ich von der Kursleitung beurlaubt worden. Einzelheiten zu diesem Werk sind, soweit sie nicht aus den Tagebuchaufzeichnungen
selbst hervorgehen, hier in einer Nachbemerkung ergänzt. Stockhausen kam gegen Ende der Kurse nach Darmstadt, um hier zu unterrichten und zu konzertieren.
Das originale Tagebuch wurde grundlegend überarbeitet und zum Teil stark gekürzt. Anderes ergänzte ich aus meiner Erinnerung. Auf die Wiedergabe der
letzten beiden Tage wurde verzichtet, da die Eintragungen rein privater Natur waren.
Eine Liste der vollständigen Eigennamen findet sich vor der Nachbemerkung am Ende von Teil 2.
1. Tag, Sonntag, 21. VII. 1974
Über Mainz nach Darmstadt. Von der Bahn in die Elektrische. Nieder-Ramstädter Str. 177, Studentenwohnheim, Zimmer 215. Auf der Suche frage ich einen Passanten, der sich sogleich
als Kursteilnehmer aus Connecticut herausstellt. Ein unpersönliches Zimmer, doch erfreulich neu, mit wenigen Spuren meiner Vorbewohner.
Ab 15 Uhr Probe Christian Wolff in der Sporthalle (Changing the System). Über eine Stunde vergeht mit der Instrumentierung von 7 mal 16 vierstimmigen Akkorden, die auf
vier Instrumente zu verteilen sind. Dann erstes Anspielen mit schönen, durchsichtigen Resultaten. Alles ist ganz einfach auszuführen, doch man muss aufpassen, wann man an der Reihe ist.
Wolff hat eine sehr ruhige, leise Art zu erklären. Sehr zurückhaltend, bescheiden, höflich, fast vornehm, nicht ohne gelegentlich in herzliches Lachen auszubrechen, wenn etwas
(sprachlich oder musikalisch) besonders seltsam herauskam.
Viele alte Bekannte: Suzanne Stephens, Ernst Thomas, Wilhelm Schlüter, Siegfried Palm, Christoph Caskel, Gillian Bibby, Moya Henderson, Mauricio Kagel, Wolfgang Rihm, Gaby Schumacher,
Rolf Gehlhaar, Horatio Radulescu (mit noch immer – von was nur? – geschwellter Brust).
Nach dem Abendessen erneut Probe mit Wolff, der mitspielt. Jeder der vier Musiker, die im Kreis an vier Tischen sitzen, hat sich aus einem großen Arsenal von Schlagzeugen (aber auch
Kieselsteinen, Münzen, Aschenbecher, alten Eisenstangen usw.) vier herausgesucht und nach ihrem Nachhall geordnet. Es entstehen vierstimmige Akkorde, zu denen immer wieder ein anderer den Einsatz gibt. Nur die
Lautstärke ist (meistens) notiert und die Nummer des Instruments. Dann Aufnahme des Bandes (vierstimmige Lesung mit verteilten Silben, die in Tonhöhe, Dauer usw. frei gestaltet werden können) für das
Konzert morgen Abend. Viel Spaß, viel Lachen und große Konzentration.
2. Tag, Montag, 22. VII. 1974
Frühstück mit Wolfgang Rihm und Peter Michael Riehm (letzterer »mit der Quint in der Mitte«). Wolfgang erzählt von seinem Klavierstück Nr. 4 und seinem neuen
Orchesterstück, einem Auftrag für Donaueschingen in diesem Herbst (Subkontur).
Um ½ 10 Uhr soll Wolff-Probe in der Sporthalle sein, aber ich komme vor verschlossene Türen, gehe zurück zur Büchner-Schule, suche. Wieder zurück zur Sporthalle, wo nun
eine Tür offen ist und man bereits auf mich wartet. Einen Hintereingang hatte ich zuvor übersehen. Probe unserer Vierergruppe (Klarinette, Horn, Kontrabass, Klavier). Die zweite Gruppe (Harfe, Geige, Trompete,
Schlagzeug) probt für sich.
Gegen ½ 11 Uhr Büchner-Schule bei Aloys Kontarsky, der ein internes Vorspiel abhält, um den technischen Stand der Teilnehmer kennen zu lernen. Einige wollen Solostücke
durchsprechen, andere zunächst nur zuhören, fast alle möchten in Ensembles mitwirken.
Sehr gut David Arden aus den USA (Berio, Rounds); energievolles, plastisches Spiel.
Kontarsky »benotet« für sich mit Buchstaben von A (Amateur) bis P (Professional). Wünsche werden notiert.
Um 12 Uhr Besprechung der Lehrkräfte mit Assistenten. Man sieht, welche Stücke besetzt werden können, stimmt sie mit dem Können der Leute ab. Vorschläge, Meinungen, Termine.
Schomecker, Kontarsky, Caskel, Palm, Hans Deinzer, kurz Armin Rosin (laut Palm mit Mittelohrentzündung und 2 Millionen Einheiten Penicillin im Blut), Gaby, Richard Armbruster und ich. Palm betont frisch,
ja forsch. Zu Schomecker nebenbei: »Sie sehen ja glänzend aus!« und mehrfach »Na, das ist ja alles sehr erfreulich!« Beim Kramen nach Noten in seiner Aktentasche witzelt er: »Ach so, das ist ja das
Frühstück …« Alle sind gut gelaunt, Kursbeginn, Aufbruchstimmung, man krempelt die Ärmel hoch und freut sich auf die neuen Aufgaben.
Mittagessen: ein ganz fettes, ergo kräftig paniertes Kotelett, siedend heißer Rosenkohl mit zuviel Muskat, geschmacklose Kartoffelecken.
15 Uhr: Generalprobe in der Sporthalle ohne Wolff, der sein Seminar halten muss. Mitschnitt des Hessischen Rundfunks, Dauer etwa 40 Minuten.
Anschließend zur Bahnpost wegen Telegramm an die Universal Edition (Dias meiner Farbpartitur [von Stockhausens Klavierstück X]).
Mein Koffer ist noch immer nicht eingetroffen, erfahre ich an der Gepäckausgabe des Bahnhofs, dafür ist mein Fahrrad da, das ich, um beweglicher zu sein, aufgegeben hatte. Ich fahre
über den Schloßplatz zurück, kaufe ein paar Lebensmittel, zwei Trinkgläser und eine Luftpumpe.
Abendessen mit Moya, Gillian, dann Wolfgang, der mir mittags sein Klavierstück zeigt, über das wir dann eine ganze Weile reden.
20.15 Uhr: Konzert. Kagels Mirum für Tuba wurde auf Mittwoch verschoben. Erst Stiebler, dann unser Wolff, wieder 40–45 Minuten, der allen, die ich anschließend sprach,
zu lang und zu wenig ausgehört erscheint. Kontarsky: »Scheußlich!«
Lektüre: Manzoni, Die Verlobten, ab Kapitel 12.
3. Tag, Dienstag, 23. VII. 1974
Vormittags bei Proben von Kagels 1898 neben Kontarsky am Flügel sitzend, der mir bei Unterbrechungen viel erklärt.
Mit Gaby Probe von Tomás Marcos Maya.
Nach dem entsetzlichen Mittagessen – fette Bratwurst, Lauchgemüse und Kartoffelecken, alles überhitzt auf Silberpapierteller – ruft man vom Bahnhof an: Mein Koffer
ist da.
Wie in den Jahren zuvor taucht wieder in schwarzem Anzug Benno Ammann auf, überall dabei, schwitzend, doch heute mit Hut.
15 Uhr: Wolff-Seminar, das ich nach dreißig Minuten verlasse, trotz meiner Sympathie für ihn. Fehlen ihm bei der Übersetzung ins Französische die Wörter oder verspricht er sich,
kneift er lachend die Augen zusammen und tritt einen Schritt zurück. Häufige Benutzung der Hände beim Sprechen; charakteristische Handhaltung: verschränkte Finger, die bei aufwärts gerichteten Daumen auf die
Brust zeigen.
Kurzer Gang durch Dr. Schäfers Notenausstellung; ich kaufe drei späte Liszt-Stücke (Toccata, Caroussel und Sospiri!) für Kevin zum Geburtstag am 26. (er wird
25) und Kagels Unguis incarnatus est zum eigenen Gebrauch.
Morgens, mittags und abends wird geübt (Repertoire).
17 Uhr: Gillian Bibby analysiert ihre Incidents unter Aufbietung zu reichlichen Zahlenmaterials. So etwas schadet den Komponisten mehr, als dass es nützt. Sie müssten eher versuchen, die Problematik einer Komposition klar zu machen, das Abenteuer, auf Neuland zu stehen. Und nicht das Fahrzeug auseinander nehmen, mit dem sie hingekommen sind.
Claude Vivier ist angekommen, sieht müde und traurig aus und ist fast etwas verbittert, selbst hier sofort wieder auf Besetzungsschwierigkeiten für seine Désintégration [für 2 Klaviere und 6 Streicher] zu stoßen. Ich versuche, ihm Mut zu machen.
Abends spricht Kagel über sein 1898 und lässt einzelne Teilchen in verschiedenen Besetzungen und verschiedenen Oktavlagen spielen. Die Unterschiede sind aber nicht so gewaltig,
und die proklamierte Freiheit kommt nicht allzu sehr zum Tragen. Aber gute Musik entsteht, spannend, komisch, manchmal übermütig. Kagel dirigiert sehr klar, vielleicht aber mit etwas zu ausladenden Bewegungen; sie
wären geeignet, ein ganzes Symphonie-Orchester zusammenhalten. Nach der Aufführung lange Diskussion, die bald in politisches Fahrwasser gerät. Kagel sagt jedem Ästhetisieren von »Miseren« ab, will sich als
Mensch gegen Unrecht weigern und nicht von Vietnam singen (er macht es vor: »Vietnam, c’est terrible …!«). Beim Hinausgehen höre ich ein Mädchen seine Ansichten übersetzen. Es sagt da etwas von
Menschen, die »in Vietnam mit Napalm vergast werden«.
4. Tag, Mittwoch, 24. VII. 1974
Am auffälligsten ist vielleicht ein kleiner junger Mann mit viel Haar auf dem Kopf und im Gesicht. Er trägt eine große Brille und eine Sportmütze, deren Schild knapp über der Brille
endet. Vom eigentlichen Gesicht ist wenig zu sehen infolge dieser Barrikaden. Er stellt sich, als Christian Wolff photographiert wird, hinter diesen, um stets mit aufs Bild zu kommen, und weiß auch sonst sein
Kommen und Gehen unübersehbar zu gestalten.
Ein Mädchen, dünn, mit Minirock, Brille, Bubikopf; keine Schönheit, äußerst scheu. Sie nimmt am Vorspiel bei Kontarsky teil, hat einen kleinen Sprachfehler (lispelt), lacht gehemmt
und verlegen mit. »Neben der geht jemand …«, lästert man bereits hinter vorgehaltener Hand. Ich verstehe die Bemerkung erst nach zweitägiger Beobachtung, als sie mich vom andern Tisch her anstarrt,
minutenlang, die Gabel in der Hand, teilnahmslos, leer, anscheinend absichts- und ahnungslos, was um sie vorgeht. Sie hat einen schnellen Gang, steht abrupt auf, verlässt den Raum urplötzlich. Ich muss
mich mit ihr unterhalten.
Gordon Mumma, ein amerikanischer Komponist. Er hält einen Vortrag mit Dias, eines davon eine mechanische Parkanlage mit Soldaten und Volk. Er spricht sehr ernst, doch verstehe ich nicht
alles. Er lässt ein Tonband abfahren, das den Mitschnitt eines Konzertes wiedergibt, bei dem vier Schreiner auf einer Bühne Baumstämme mit Motorsägen zerschneiden. Nach etwa neunzig Sekunden Sägengeknatter
hört man Publikum Beifall klatschen und pfeifen. Dann viele Bilder, auf denen man zumeist technische Apparate von immensen Kosten für musikalische ewas anspruchsarme Zwecke eingesetzt sieht. Immer viel
»Technik« – Computer, EEG, Laser, Stroboskop usw. Mumma stellt sich auf einen Stuhl und demonstriert eine Art Gürtel, der die Bewegungen seines Trägers akustisch übermittelt. So kann man die
Bewegungen »hören«. Mumma führt immer eine Menge Taschen mit sich und trägt meistens auch einen kleinen Rucksack. Ich wette, alles gespickt mit Elektronik.
Mittags Generalprobe von Kagels 1898; abends schöne, spannende und genaue Aufführung. Davor das schwache Mirum für Tuba, das anscheinend nur des (aufgesetzten) Textes
wegen entstanden ist. Für beides eine Menge Applaus. Kagel dirigiert im Sitzen auf einer Schulbank, die sich bei heftigen Bewegungen unter seinem Gewicht durchbiegt, und geht ganz in seiner Musik auf.
Erstes Üben an Stockhausens Refrain.
Nach dem Konzert kurz Péter Eötvös und Mesias Maiguashca begrüßt. Péter sieht frisch aus. Claude zeigt mir seine Partitur Lettura di Dante, von der er mir letzte Woche
erzählte. Wir sehen sie gemeinsam durch. Das ist alles sehr schön klar und durchsichtig und zeigt (wie Chants und Désintégration) seinen langen Atem. Die zentrale Stelle des Stückes: ein Tremolo
von über 30 Sekunden, in denen der Vorhang aufgeht, dann von der Sängerin «Ho visto Dio» und wieder 24 Sekunden das Tremolo; die Worte in dreifachem Forte geschrieen, dazu mit den Fingern die Zeichen der
Taubstummensprache. Mir gefiele es besser, wenn der Einsatz der Worte frei zu wählen wäre, um auf die Situation der Aufführung abgestimmt werden zu können. Und besser wäre es, nur die Handzeichen zu nehmen oder
die Lippen die Worte tonlos formen zu lassen. Das Sehen Gottes muss sich in einer ganz tief greifenden Veränderung des Menschen ausdrücken. Dante konnte berichten, als Dichter. Doch bei der Theatralisierung
müsste ein innerer Glanz von dem Menschen ausgehen, der Gott gesehen hat; eine ganz, ganz unglaubliche Hoffnung. Worte können lügen, nicht das Aussehen, die Ausstrahlung, das eine solche Botschaft begleiten
würde.
Mittags hören wir das Tonband der Kölner Aufführung von Désintégration. Alles ist übersteuert; jeder laute Klavierton klingt, als läge Pergamentpapier auf den Saiten.
Zu essen gibt es Rindfleisch, Karotten und Kartoffelbrei.
Da sich noch Geiger und gar zwei Bratschen gemeldet haben, können wir Désintégration für das erste Studiokonzert am 2. August planen, und ich muss Christoph Delz anrufen, der, wie in Köln, die andere Klavierstimme spielen soll.
Längere Unterhaltung mit Dagmar Bösser (das lispelnde, starrende Mädchen), die aus Bayern stammt und in Bremen studiert, gleich mir vor kurzem in der »Glocke« die Uraufführung von
Stockhausens Herbstmusik bei der »nova« erlebte und sein Spiral in einer Fassung für elektrisch verstärkte Blockflöte spielen möchte. Ich kann ihr versprechen, sie mit Péter bekannt zu
machen, der Spiral mehrfach aufgeführt hat, und ich erfahre, dass sogar Michael Vetter, der »eigentliche« Spiral-Spezialist, am Freitag kommen soll.
5. Tag, Donnerstag, 25. VII. 1974
Der erste Probenplan wird aufgesetzt, erste Proben werden abgehalten. Zunächst ein Stück von der hübschen Christina Kubisch aus Mailand. Fünf Pianisten an einem Flügel; jeder hat
einen Ohrclip und hört von einem Kassettenrecorder ein anderes Metrum, nach dem er eine einfache Viertelfigur spielt – bis zu einem Zeichen, das wie das Pfeifen einer Lokomotive klingt. Dort ändert sich das
Metrum, und man geht zur nächsten Zeile weiter.
Meine Dias treffen aus Wien ein.
Erste Probe von Refrain mit Caskel, Monique Copper (Celesta) und Cristian Petrescu (Klavier). Letzterer scheint ein Großmaul zu sein und erinnert an einen Inseldiktator aus der
Südsee: feist und vorlaut, undiszipliniert und eitel. Nichtsdestotrotz kein übler Pianist.
Kurz im Kagel-Seminar, doch der Meister verzapft pure Ideologie über sein Mirum für Tuba und dessen läuternde Wirkung auf den ausführenden Musiker. Aber auch das macht mir das
Stück nicht sympathischer.
Mumma durchzieht die langen Flure des Schulhauses wieder mit Rucksack, unterm Arm eine Tasche, Noten und ein langes schwarzes Futteral, auf dem »Mumma« steht. Bei der Kubisch-Probe
photographiert er mit zwei Apparaten und hantiert mit einem Minirecorder mit eingebautem Mikrophon (dieser Technik-Besessene!). Der Pioniergeist treibt ihn um.
Wieder vergebliche Versuche, Christoph in Basel zu erreichen. Morgen wird ein Telegramm geschickt.
6. Tag, Freitag, 26. VII. 1974
Zwei weitere Proben an Refrain. Petrescu entwickelt immer neue Eigenarten. Heute hatte er Hausschuhe dabei, die er zum Klavierspielen anzog. Bei dem ersten Tremolo legt er sich so
ins Zeug, dass ich nur mit Mühe mein Lachen verkneife. Eine urkomische Figur mit einem Hinterteil, für das ein einziger Klavierstuhl kaum ausreicht. Dabei ist er immer ernsthaft und zitiert mich herbei, um in
Ermangelung eines dritten Pedals einen Akkord festzuhalten oder einen Dämpfer anzuheben. Ich kann mich der Aufgabe erfolgreich entziehen. Alles, was er spielt, ist eher zu laut als zu leise, und die
Übereinstimmung von Charakter und Spielweise bewahrheitet sich einmal mehr. Der Eindruck verliert sich allerdings mit der Zeit, und vielleicht sind es vor allem Anspannung und Nervosität, die sich hier Luft machen.
In der Mittagspause sehe ich die Partituren durch, die für die Kurse eingeschickt worden sind; das meiste auf mittlerem Niveau. Auf dem Balkan scheint man der »Hommages à Bartók«
nicht müde zu werden, und man kopiert den Guten schamlos.
Ulrich Heinen und Jacky Ross, beide aus dem Saarbrückener Orchester, treten wie zwei Hollywood-Stars auf. »Uli« erkennt mich kaum wieder, scheint aber wenigstens den Rest einer
Erinnerung an vergangene Saarbrücker Tage bewahrt zu haben.
Beim vierten und letzten Versuch konnte ich endlich in Basel eine Nachricht für Christoph hinterlassen.
Kagel erläutert in seinem Seminar die Kinderstimmen aus 1898. Das ist nicht sehr bewegend, und er scheint mir die therapeutische Wirkung der Musik auf die Kinder zu
überschätzen. Wolfgang Rihm und ich kichern darob in den hinteren Reihen. Da Kagel gerade vom Lachen der Kinder spricht, dies aber irgendwie ingrimmig und mit Ärger in der Stimme tut, meint Wolfgang,
Kagel sehe aus, als würde er uns beide gleich rauswerfen und eine Strafarbeit aufgeben. Das reizt mich noch mehr zum Lachen, und als Wolfgang mir noch zwei Bildchen von Kindergesichtern aufzeichnet (eines lachend,
eines weinend, mit #- bzw. b-Vorzeichen), muss ich den Saal verlassen, um mir nicht ernstlich Herrn Kagels Zorn zuzuziehen.
Unverkennbare Silhouette: Kleine Feinschnitt-Pfeife, Brille, Futteral, Noten, Rucksack – Mumma.
Abends Konzert mit Stücken von Péter und Mesias. An Péters setze ich aus, dass es Unterbrechungen gibt, die allein durch das Umstöpseln der Synthesizer bedingt sind, die dann aber in
»szenische« Elemente umgedeutet werden. Ich besaß die Kühnheit (oder Dummheit?), ihn darauf anzusprechen. Mesias’ Stück enthielt viel Schönes und gut Komponiertes, doch leider, kurz vor Ende, in einem
der besten Momente, nein, für mich im besten Moment des Stückes eine Brechung der Musik durch eine verbale Ansage der Mitwirkenden.
7. Tag, Sonnabend, 27. VII. 1974
In Kontarskys Seminar Berios Rounds und Stockhausens Klavierstück V. David Arden, Peter Hill und Monique Copper spielen.
Anschließend im Vortrag von Johannes Fritsch, der über Harmonien (Untertonreihen) spricht. Sein Sul G ist allerdings eindrucksvoller als seine Theorien. Wieder viel Gekicher mit
Wolfgang, da sich ein weiterer Mützenträger eingestellt hat, ebenfalls mit Bart und Brille. Wolfgang malt eine Reihe von Stufen, die Fritsch in den Bärtigen verwandeln.
Nach dem Mittagessen zeige ich Wolfgang, was ich von den Funktionen des Synthesizers weiß, und wir spielen 1 ½ Stunden damit herum, Cola-Schokolode und Dörrobst essend.
Fünf Minuten im Vortrag von Peter Michael Braun.
Claude erzählt von seinen Erlebnissen mit der »Moment-Form« Stockhausens.
Programmbesprechung und Probenplan um 15.30 Uhr. Das erste Studiokonzert wird zusammengestellt: Gehlhaar, Brindus, Lehmann, Vivier.
Ich bin sehr abgespannt, doch nach zwei Stunden Schlaf geht es mir besser. Nach dem Abendessen Vortrag von Tomás Marco, den ich vorzeitig verlasse.
Wieder fällt Dagmar auf. Schon bei Fritsch kam sie verspätet, ging hinter diesem vorbei und holte sich einen Stuhl, trug ihn hinter Fritsch vorbei und setzte sich. Nun standen aber
dort, wohin sie ihren Stuhl brachte, genügend leere Stühle, und der Grund des Transportes war nicht zu erkennen. Dann hustete sie. Bei Marco heute Abend ganz ähnlich. Sie setzt sich, steht wieder auf
und trägt ihren Stuhl in die erste Reihe, hustet kurz und trocken (wie fast während des ganzen Mirum), hält sich die Hände über die Ohren, bohrt mit einem Finger darin, lächelt nach oben in den
leeren Raum, sieht abwesend in irgendeine Ecke, hustet, starrt den Vortragenden an, ja durch ihn hindurch.
Morgen geht’s über Paris nach Marseille und la Ste. Baume. Ich freue mich nicht darauf. Zu große Hektik. Müde.
8.–10. Tag, Sonntag–Dienstag, 28.–30. VII. 1974 Exkurs nach la Ste. Baume [siehe hierzu die Nachbemerkung]
Wieder zurück aus la Ste. Baume. Hinflug am Sonntag (mein sechsundzwanzigster Geburtstag) über Paris, dort kurzer Aufenthalt bei meiner Schwester unter ständigem Zeitdruck, dann
Weiterflug nach Marseille.
Ich sehe niemanden, der mich abholen will, warte volle zwei Stunden und nehme schließlich ein Taxi nach la Ste. Baume, das oben in den Bergen in einem Hochtal liegt. Der Taxifahrer
diskutiert kurz mit seinen Kollegen, wie am besten zu fahren sei, und wir machen uns auf den Weg. Es wird allmählich dunkel.
Es ist eine kurvenreiche Gebirgsstraße, die stellenweise nicht ausgebaut ist und sich manchmal gar zu verlieren scheint. Dem Fahrer – mir nicht minder – wird die Sache
zunehmend bedenklich. «C’est impossible, c’est impossible!» ruft er mehrfach, studiert seine Karte, sucht nach Wegweisern, die es aber nicht gibt oder in der Dunkelheit nicht zu finden sind. Auch
Häuser, in denen man fragen könnte, gibt es keine. Finsternis ringsum und nur eine Schotterstraße, die sich endlos in die Berge hinaufwindet. Kein Verkehr, der überholt, selten kommt ein Fahrzeug entgegen.
Mit meinen wenigen französischen Brocken kann ich meinen Chauffeur jedoch immer wieder zur Weiterfahrt bewegen: «La rue est très male, bien sur, mais je pense que la direction est
bonne!», versuche ich uns Mut zu machen. Ich zeige ihm meinen französischen Vertrag, um sein Vertrauen zu gewinnen und zu beweisen, dass mich ausschließlich ehrenwerte künstlerische Motive in diese entlegene
Gegend führen.
Gegen halb zehn erreichen wir unser Ziel. Der Fahrpreis beträgt 150 FF, und ich lege noch 20 FF für die ausgestandenen Ängste darauf (man erstattet mir später die Auslagen).
Ein beleuchteter Eingang, vor dem mehrere junge, meist bunt gekleidete Leute stehen, sitzen oder liegen, führt zu dem Saal, aus dem leise Stockhausens Indianerlieder erklingen.
Ich warte im Freien – tief diese einzigartige, wunderbar warme, betäubende Luft atmend.
Nach einer Viertelstunde gibt es innen Applaus, und man darf hinein. Der Raum ist eine Art Scheune mit rohen Wänden, ist aber mit Teppich ausgelegt. Über den Köpfen sind Scheinwerfer
im Gebälk montiert, ein großer hoher Kasten enthält eine altmodische Orgel; an den Wänden ringsum Podeste und Bauten für das Alphabet.
Stockhausen kommt und spricht über Magie, Inayat Khan, einen Universitätsprofessor und einen Hühnerfarmbesitzer; er bringt sein Publikum zum Lachen.
Als die Leute gegangen sind, beginne ich mit meinem Aufbau und gehe gegen 3 Uhr früh schlafen.
Beim Gang über den kiesbedeckten Innenhof zu meiner Unterkunft – ein Dreibettzimmer, alt, unfreundlich – blicke ich nach oben, erstarre und bleibe mit offenem Mund stehen, so
sehr staune ich. Ein Sternenhimmel, wie ich ihn nie zuvor sah. Glaubte ich, mich am Himmel einigermaßen auszukennen, so finde ich jetzt kein einziges der mir vertrauten Sternbilder wieder, so verwirrend ist die
Unzahl der Lichtpunkte. Die Milchstraße – in Köln bestenfalls andeutungsweise zu sehen –, hier spannt sie sich schön und klar über das ganze Firmament. Zwei Sternschnuppen fallen, und ich
wünsche mir etwas.
Am andern Morgen nur eine Tasse Tee im Stehen im überfüllten Speisesaal, ein trockenes Stück Brot. Ich bin völlig ungewohnt, unter so vielen Menschen zu sein, die alle Zeit im
Überfluss zu haben scheinen. Viele schöne, oft bildschöne Mädchen. Den ganzen Tag werde ich bedrückt und schweigsam sein, manchmal fast wieder verzweifelt. Ich beende den Aufbau meiner Apparaturen.
Wo ich denn am Flughafen gewesen sei, fährt mich Stockhausen vorwurfsvoll an, als er mich sieht. Man habe extra jemanden geschickt, um mich abzuholen. Ein Programmheft habe er
als Erkennungszeichen in der Hand gehalten. Ich habe wohl nicht aufgepasst …! Aber ich hatte niemanden mit Programmheft gesehen und wäre wohl auch auf Verdacht auf jeden zugegangen, der mir wie ein
Abholer ausgesehen hätte.
Während mich meine Wannen und Lichtprojektionen nochmals beschäftigen, arbeitet Stockhausen im Hintergrund mit einem Pianisten, der ihm auf einem Flügel sein Klavierstück IX vorspielt.
Was gesprochen wird, kann ich nicht verstehen; die Entfernung ist zu groß. Doch es sind keine freundlichen Laute, die mich erreichen.
Gegen 10 Uhr beginnt unsere Probe für das Alphabet. Stockhausen geht herum, sieht jedem eine Weile zu, verbessert, belehrt, wendet sich mit erhobener Stimme an alle und
gibt Anweisungen für den Abend. Kaum habe ich zwei oder drei Glissandi auf dem Synthesizer gespielt, ohne sie weiter entwickeln zu können, kommt Stockhausen und fragt, ob ich das gemacht hätte. Das sei ja
scheußlich. Ich hatte das zwar selbst so empfunden, aber irgendwie musste man ja einmal anfangen. Die Weichen sind auf Zusammenstoß gestellt.
Nach dem Mittagessen lege ich mich einige Stunden schlafen, um am Abend für die vierstündige Aufführung ausgeruht zu sein – zumal ich gleich anschließend noch nach Marseille
zurück muss –, und mache dann einen kurzen Spaziergang, finde Lavendel. Es ist hochsommerlich heiß.
Ich dusche und setze mich zu den anderen Spielern auf die Terrasse, wo man etwas trinken kann. Stockhausen präsidiert und fragt mich nach den Kursen in Darmstadt. Verlegen gebe ich
Auskunft, da er mich lautstark quer über den ganzen langen Tisch hinweg anspricht. Es komme eben auf den Tag an, sage ich abschließend, und meine, dass es eben gute und schlechte Tage gebe. Die Antwort passt ihm
offensichtlich nicht. Sich wieder von mir abwendend meint er ironisch, das seien ja »weise Sprüche«.
Ich antworte nichts und falle in Stillschweigen. Helga Hamm, die Sängerin der Indianerlieder, fragt mich später, ob ich »immer so ruhig« sei. Meine Fähigkeit zu unterhalten
lässt sichtlich zu wünschen übrig, und man lässt mich dies auch spüren.
Die Vorstellung beginnt um 20.30 Uhr und dauert bis 0.40 Uhr. Wenig interessante Musik, am besten noch Michael Vetter und Atsuko Iwami.
Kurz vor Mitternacht setzt sich Stockhausen, stets mit einer Schar Zuhörer im Gefolge, neben eine meiner Wannen und beginnt mir Anweisungen zu geben, was ich spielen soll. »Kleine
Sekund, stehen lassen, stehen lassen … aha! Wieder zurück. Langsamer Triller, zehnmal hintereinander. Tritonus. Mehr Obertöne, lauter, noch lauter.« Und so weiter.
Ich bin zunächst völlig wehrlos und gehorche, wie ein artiger Schüler die Weisungen seines strengen Meisters befolgt. Doch ich fühle mich gänzlich überfahren; empfinde wie jemand,
der nichts Eigenes hat, alles verkehrt macht und dem man alles sagen muss, damit es keine Pannen gibt. Endlich habe ich Kraft zum Widerstand gesammelt und sage zu Stockhausen, das Beste sei, er würde es gleich
selber machen. Er stutzt. Und nach einer ziemlich langen Pause sagt er, dann solle ich etwas zeigen, was interessanter sei. Und, nach erneuter Pause, fügt er hinzu, das wäre noch besser.
Aber ich versuche ohnehin, meiner Aufgabe nach Möglichkeit gerecht zu werden und Physik und Musik in Einklang zu bringen. Entstand dabei bisweilen mehr Physik als Musik, so war das
eigentlich nicht meine Schuld allein, sondern hatte seine Ursachen nicht zuletzt in der Komposition selbst, die diese Bereiche nur unzulänglich zu verbinden wusste und welche die starken Beschränkungen des
speziellen, auf optische Demonstration ausgerichteten Instrumentariums verkannte.
Stockhausen mag all dies selbst empfunden haben, und seine Gereiztheit mochte zum Teil auf diesen Umstand zurückgehen. Er sieht und hört nun schweigend zu, bis er schließlich nach der
Uhrzeit fragt. Auch diese Frage, wie alles zuvor, nicht etwa diskret, sondern mit lauter Stimme.
Den hellhörig gewordenen Anwesenden, auch denen, die kein Deutsch verstehen, ist nichts von unserem Konflikt entgangen, und man ist dankbar für den kleinen zusätzlichen
Höhepunkt. Schließlich gebietet Stockhausen, Schluss zu machen, da die vorgeschriebenen vier Stunden schon zehn Minuten überschritten seien.
Alles, was mich Stockhausen im Verlauf dieses abstoßenden Finales spielen hieß, passte in nichts mehr zum Gesamtklang. Es erschien mir im Hinblick auf die anderen Stimmen des Ensembles
von Grund auf unsinnig und ließ sich nur als Teil eines Machtkampfes begreifen, der an die Stelle einer musikalisch fruchtbaren Begegnung trat. Er war der Überlegene, ich der Unterlegene. Er als Komponist durfte
auch vor Publikum, mitten in einer Aufführung, von den Spielregeln abweichen und Dinge verlangen, die so nicht vereinbart waren, die ihm im Augenblick opportun schienen und die er nicht zu rechtfertigen brauchte
– ein Solo für den Komponisten und zugleich ein klarer Fall von Machtmissbrauch, Vergewaltigung und Verrat. Meine Rolle als Stiefelabtreter war überdeutlich. Von dem ständig im Munde geführten
»höheren Bewusstsein« keine Spur; eine Phrase, die nur der Gängelung diente.
Nach der Aufführung solidarisches Bedauern und Empörung der anderen Musiker, denen die Szene nicht entgangen war; Ablehnung, künftig weiter bei diesem Stück mitzuwirken. Auch für
mich war dies die letzte Aufführung des Alphabets, dessen war ich ganz sicher.
Ich packe schnell die Geräte zusammen, da mich ein Ehepaar im Wagen nach Marseille mitnehmen kann. Ich habe keine Lust mehr, Stockhausen zu sehen, und gehe ohne Abschied.
Um ½ 3 Uhr morgens bin ich wieder am Flughafen in Marseille.
Mir ist sehr übel, und ich habe heftige Kopfschmerzen. Ich lege mich auf eine Bank, eine Jacke unter den Füßen, den Koffer als Kissen benutzend. Abflug 6.20 Uhr nach Paris,
8.45 Uhr ab Paris nach Frankfurt. Gegen 11.30 Uhr bin ich wieder in Darmstadt.
Nachmittags nach dem Duschen geschlafen, dann mit Kontarsky Evryali von Xenakis durchgegangen, da ich ihm bei der Aufführung umblättern soll. Désintégration geübt; mit Mesias über Stockhausen gesprochen. Abends Xenakis-Konzert. Sehr eindrucksvoll Persephassa,
grandios gespielt. Xenakis macht sich. Alles sehr kraftvoll und energiegeladen und stets mehr als »nur laut«.
Das Konzert bringt mich wieder auf bessere Gedanken, und meine große Enttäuschung lässt nach. Wolfgang versucht mich zu trösten.
Die Verlobten von Manzoni zu Ende gelesen. Das Gottvertrauen, das aus diesem Buch spricht, kann nicht ganz ohne Wirkung auf den Leser bleiben.
Fortsetzung
Letzte Änderung: Montag, 2. Mai 2016
© 2000–2016 by Herbert Henck
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