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Das kleine Pferd
Autobiografische Schrift
von Herbert Henck
Kapitel 1 Das Land und der Himmel
Kapitel 2 Die Wege
Kapitel 3 Der Hof
Kapitel 4 Das kleine Pferd
Kapitel 5 Der Rückweg
Kapitel 1 Das Land und der Himmel
Nahm ich auf meinen Spaziergängen anfangs nur Wege, die mir vertraut waren, so wurde ich mit der Zeit mutiger und schritt, versehen mit kräftigem
Schuhwerk, nun auch durch mir unbekanntes und früher gemiedenes Gelände. Diese neuen Wege waren selten angenehm zu begehen, nichts weniger als eben, zumeist mit Gras überwachsen, stellenweise steinig, sandig
oder schlammig und sicher nicht für Fußgänger wie mich angelegt, der ich „auf Schusters Rappen“ daherkam. Gleichwohl waren sie mir lieb, denn sie führten, nachdem ich die letzten Häuser und Gärten des Dorfes
hinter mir gelassen hatte, zu den großen, leicht gewölbten Flächen der Felder und Weiden hinaus in die Schönheit des freien und offenen Landes, entlang an den vielfach gezogenen Gräben, an deren
Verlauf sich selbst die sanften Steigungen und Neigungen, die den Fluss des Wassers regelten, ablesen ließen, und an deren Saum oft wilde Pflanzen, Sträucher und Bäume wucherten.
Weit konnte man hier draußen sehen, und der Blick wurde manchmal nur von einem fernen Streifen Wald begrenzt, den selbst an klaren Tagen feiner Dunst
bedeckte. Mitunter führte der Weg auch durch ein Wäldchen, das man einen Hain nennen könnte, würde der Ausdruck nicht allzu poetische Vorstellungen vom Liebreiz solcher Örtlichkeiten wecken. Als Rest gerodeter
Waldung schmeichelten sie nicht immer dem Auge, und ihre Lage, Form und Größe redeten ihre eigene Sprache. Die nahezu lückenlose Nutzung des Bodens und all dessen, was auf ihm gedieh, war schwerlich
zu übersehen und kaum eine Idylle zu nennen, besonders dann nicht, wenn ab dem Frühjahr die Bauern die im Winter vorschriftsmäßig gesammelte Gülle mit speziellen Fahrzeugen auf den jetzt frostfreien
Feldern ausbrachten. Trotz blauen Himmels, Sonnenscheins und steigender Temperaturen schloss man dann lieber die Fenster, anstatt sie zu öffnen, holte die Wäsche, die zum Trocknen auf der Leine schon im Garten hing,
unverzüglich ins Haus zurück, um sie im Schutz des Kellers erneut aufzuhängen; und als Spaziergänger klammerte man die Nähe bestimmter Felder besser einige Tage aus, zumindest solange es nicht geregnet hatte. Doch
gab es auch Wege, auf denen es, je nach Jahreszeit, gut nach frisch gemähtem Gras roch, nach Heu oder sogar nach der Fülle reifen Korns, nach der gesunden Kamille, dem blühenden Holunder und dem fast
schon exotisch lieblichen, ringsum rankenden Geißblatt, nach Wald, Tannennadeln, Pilzen, Laub, jüngst geschlagenem Holz und würzigem Harz, so dass ich gerne ein Weilchen stehenblieb, um diese
Köstlichkeiten, die alle Nachteile mehr als aufwogen, tief einzuatmen und innig zu genießen.
Die Landschaft verwöhnte nicht und entzog sich jedem gängigen Tourismus. Weder Burgen und Schlösser ragten empor, noch lockten Parks und Paläste, schroffe
Felsen, verwunschene Ruinen und düstere Höhlen, feuerspeiende Berge, gähnende Schluchten, reißende Ströme mit gefährlichen Strudeln, stürzende Wasserfälle und andere Attraktionen mehr. Nur eine einzige Bank zum
Verweilen kannte ich damals in der Umgebung, und sie stand einsam am Rand eines Wäldchens mit dem Blick auf ein wenige Schritt entferntes Gerstenfeld. Hohe Brennesseln wuchsen im Sommer zwischen
ihren einst mit dunkelgrünem, jetzt aber abblätterndem Lack überzogenen Sitzbrettern und waren beiseite zu schieben, beabsichtigte man sich niederzulassen; denn kaum jemand, der nicht eine Pflicht zu erfüllen
hatte, nutzte die Gelegenheit, hier Ruhe zu suchen und neue Kraft zu sammeln. Wollte man sich anderswo setzen, hatte man sich dem Gras anzubequemen oder auf einem der Findlinge Platz zu nehmen, die
mancherorts zur Orientierung an Wegkreuzungen abgelegt waren und nur zu harter Rast luden.
Umso deutlicher war das Land von den Mächten der Zeit geformt, Mächten, deren Ausmaß weit jenseits unserer Erfahrung und Überlieferung lag. Sie lenkten den
Blick weniger auf die Vergangenheit des Menschen als die der Erde, auf Vormaliges und Grundlegendes, weniger auf das Einzelne als das Allgemeine. Der Sand in den Böden und der feine Schliff vieler und nicht nur
kleiner Steine ließen vermuten, dass es zu Urzeiten und lange bevor Menschen kamen, rings ein alles bedeckendes Meer gegeben hatte, vielleicht auch ein Meer mit Stürmen, Schnee und Eis. Und über unvorstellbare
Dauern hinweg hatten Ebbe und Flut, Gletscher, Regen, Wind und Wellen, die Schwer- und Fliehkraft der Erde, der Stand des Mondes und die Strahlen der Sonne geschmolzen und geebnet, geglättet, gerollt und gerundet,
erwärmt und gekühlt, und zu jenen abgeflachten, weichen und gefälligen Gestalten geführt, so dass gegenüber den oft tief im Boden steckenden Steinen die kultivierende Arbeit des Menschen als eine zwar notwendige und
wesentliche, im wörtlichen Sinn aber auch oberflächliche Tätigkeit wirkte.
War es einige Tage lang trocken und Wind ging, so konnte man auf Feldern und Wegen einen allmählich sich mehrenden Anflug von weißlichem Staub erblicken.
Dieser bestand überwiegend aus Sand, also aus einer Menge winziger Steinchen, die der Wind und das Wasser gelegentlich mitnehmen konnten. Sobald aber die Kraft des Windes oder der Strömung nachließ, sammelten sie
sich, häuften sich, wo immer sich die Möglichkeit bot, und setzten sich hell ab von ihrer Umgebung. Anderes war noch kleiner als der Sand und zum Teil fast unsichtbar geworden, und der Wind brachte es bis
hinauf in die oberen Etagen der Wohnhäuser. So entstand bei offenem Fenster nach einiger Zeit ein leichter Schleier wie Staub auf den Fensterbänken und den polierten Flächen der Möbel, den man anfangs mehr unter den
Händen spürte, als dass man ihn sah. In den Furchen der Felder, wo ihn der Wind auch niederließ, glich er gelegentlich feinster heller Asche, und wie fallender Schnee ließ er manche Figuren, Formen und Muster
jetzt erst hervortreten.
Doch gab es hin und wieder auch Steine von schönem, mattglänzendem Schein, die man gut in die Hand nehmen konnte. Sie stammten vielleicht aus den
Schloten der Vulkane und waren wohl einst in der Vorzeit aus flüssiger Glut erstarrt. Den undurchsichtigen Schmelz ihres dunklen Glases, das die Farbe von Honig oder Milchkaramellen hatte, und ihr
poröses Weiß oder Blaugrau sah man schon von weitem auf den gepflügten Feldern, und Glanz und Farben wurden von jedem Regen aufs neue gewaschen. Freilich glaubte ich, mag sein zu Unrecht, dem Land noch immer seine
Herkunft aus dem Meer anzumerken, denn seine Erhebungen ähnelten gewaltigen, trägen und plötzlich zum Stillstand gekommenen Wogen, auf denen sich nun unzählige Stengel und Halme im Wind wiegten und sich aus der
Ferne wie die Formen auf einem großen Gewässer ausnahmen.
Ließe sich dieser Gegend auch nachsagen, dass in ihr ein gewisser Mangel an Abwechslung, Beschränkung, ja Eintönigkeit und selbst Sprödigkeit
vorherrschten, so öffnete all solches den Blick für tiefere und verborgene Dinge, für welche, wie so oft, das körperliche Sehen nur Anregung und Auslösung war, während in der Suche nach den wirkenden
Kräften, nach Abhängigkeiten und Beziehungen die schwierigere Aufgabe bestand. Vielleicht war dies auch eine der Ursachen, dass man die Farben des Himmels und das Aussehen der Wolken hier mehr als gewöhnlich
beachtete und sie, gleich den zu findenden Steinen, nicht nur als Selbstverständlichkeit und vorgegebene, unabänderliche Nebensache hinnahm. Sicherlich kam aber auch das Fehlen von Ablenkendem hinzu, das
die Einzelheit erhöhte und ihr Aufmerksamkeit schenkte, wie dem im Nebel oder Schnee Gehenden seine Schritte besser hörbar werden, da ringsum alles weiß ist und solchermaßen das Sehen eingeschränkt wird. Ich
mag mir dies nur einbilden, doch hatte ich das Gefühl, dass Himmlisches und Irdisches nicht in dramatischem Gegensatz aufeinander stießen, sondern trotz ihrer sichtlichen Unterschiede auch auseinander
hervorgingen, sich annäherten und verbanden, um letztlich in unübertrefflich stimmiger und das Gefühl nie beleidigender Weise eine Einheit zu bilden und vollendet zu harmonieren, da ein jedes Wesen
und Ding gleich wichtig war und die ihm angemessene Gestalt einnahm.
Welch riesige blaue Kuppel schwebte da allseits über dem Grün des Landes, die durch die Wolken, die Vögel oder die Zweige und Blätter zu einem halb
konkreten, halb abstrakten, teils stehenden, teils bewegten Gebilde wurde. Zu groß waren die Kräfte, um ihr Wirken zu erblicken, ohne den Kopf zu heben, sich zu drehen, zu wenden und die Augen
schweifen zu lassen. Welche Unvergleichlichkeit, welcher Reiz und welches Wunder an ständig wechselnden Farben, an Übergängen und Gegensätzen, an Mischung und Trennung von Licht und Schatten, wenn die Strahlen
der Sonne auf immer neue Art die Wolken durchdrangen. Und welch ein Wandel, wenn es dämmerte, auf den Abend zuging und der Tag nun seine Augen schloss, das Licht am Rand des westlichen Himmels sich
ins Gelbe, Orangene und Kupferrote brach, unser Gesichtskreis sich Stunde um Stunde verengte und sich dann ins Dunkel des Nachtblau hinein bis in die schwarze Finsternis verlor und die Sonne schließlich am
Horizont bis auf ihren letzten Widerschein untergegangen war – um am nächsten Tag in entgegengesetzter Weise wieder aufzuerstehen, die Erde zu beleben, zu erwärmen und zu erhellen mit ihrem aus
Schlaf und Traum erwachenden Morgengruß von ähnlicher, aber doch junger, neuer und frischer Farbe.
Dieser vorübergehende Abschied, das Schwinden der Sonne, die ja nicht wirklich schwand, sondern, dem Gesetz der Erddrehung folgend, auf der Gegenseite des
Horizonts scheinbar wiederkehrte, entzog sie uns nur. Sie leuchtete anderswo, erweiterte dafür aber den Blick in die Unermesslichkeit des uns umgebenden Raums und ermöglichte die Sicht auf die Sterne, die, je tiefer
und reiner die Nacht wurde, umso klarer hervortraten – eine Sicht, welche das Verhältnis von Tag und Nacht geradezu umkehrte, da im Dunkel weitaus größere Entfernungen wahrnehmbar wurden als im Tageslicht. Die
Sterne waren so strahlend wie unnahbar fern, und die vom Moment seiner Entstehung an ständig wachsende Größe des Alls ließ einmal mehr bedenken, dass man ihr Licht oft erst gewahrte, nachdem sie Abermillionen Jahre
zuvor schon verglüht, erloschen, erkaltet und in Anderes verwandelt waren, dass es trotz dessen aber, wollte man kein endliches Universum annehmen, jenseits von ihnen erneut in Abmessungen weitergehen musste,
die wie ihr einstiger Ort womöglich zu berechnen, ab einem bestimmten Punkt aber nur noch in Zahlen auszudrücken waren. Denn in dem Immensen, der völlig unirdischen Unbegrenztheit des Alls war alles bar der
Anschaulichkeit, überstieg jeden Vergleich und jedwede Vorstellungskraft, war zu groß für den kleinen Menschen mit seinen wenigen Jahren und seiner winzigen Größe, auch wo er sich selbst als Maß
aller Dinge begriff. Bis auf sein von Geburt und Tod gefasstes Leben, das von einem ersten zu einem letzten Atemzug reicht, an dessen Beginn man sich gar nicht oder nur sehr schwach erinnert und dessen
Ende man aber unweigerlich kommen sieht, liegt fast alles im Dunkel des Nichtwissens, und man ist angewiesen auf das, was andere gesagt und festgehalten haben als eine durchaus fragwürdige Überlieferung. Jede neue
Sicht veraltet alsbald und lässt diese täglich an Umfang und Kraft einbüßen. Diese Erfahrung zeigt sich im Größten wie im Kleinsten, denn zumindest mathematisch lässt sich alles beliebig verdoppeln oder
halbieren, und das in Wirklichkeit Gefundene ist nur zeitbedingt und setzt diesem Vorgang keine Grenze.
Zugleich wurde deutlich, dass Fragen, die sich über die Anfänge stellten oder sich gar gutherzig über sie hinausbewegten, bekannte Maße, Entfernungen,
Gewichte und Geschwindigkeiten, bald hinter sich ließen und zu etwas führten, in dem unser gewohntes Denken nicht mehr zutraf. Wohin man auch blickte, verlor man sich in der Unendlichkeit, und aus dem Umgrenzten
ging das Unbegrenzte von Zeit und Raum hervor, mit dem sich nur schwer rechnen ließ. Die Antworten auf die sich hier und jetzt stellenden schwindelerregenden Fragen lagen nur anfangs im bescheidensten
Rahmen naturwissenschaftlicher oder selbst philosophischer Erklärbarkeit, wobei sie geradezu notwendig in den theologischen Bereich vorstießen.
Wer wollte behaupten, dass das Universum sich in dem erschöpfe, was dem Menschen wahrnehmbar und erkennbar sei, zumal die Generationen vor uns sich
in ähnlichem Wahn befunden hatten? Spätestens hier wie auch im Problem des Anfangs alles Seienden öffnete sich weit das Tor der Mutmaßungen, hinter dem die Gebrüder Glaube und Wunsch, Irrtum und Irrsinn hausen.
Wissen und Erkenntnisse waren hier keine mehr, alles geriet aus der Balance, bestand bestenfalls nur noch in Ausnahmen von einer unerwartet endenden Regel, undurchdringliches Dunkel umhüllte uns, Illusionen,
Annahmen, Unsicherheit, Einsamkeit und vage Vorstellungen, wie es vordem gewesen sein könnte, wie es zu dem heutigen Zustand gekommen sei und wie alles dereinst einmal sein werde. Dann brach auch dieses ab, und
Staunen und Sprachlosigkeit über die Riesigkeit ob dem allen ergriff uns. Der Mensch und sein Schicksal spielte in diesen Überlegungen keine Rolle mehr, denn er war unlösbar eingebunden und festgelegt
in einer Vielzahl von Bestimmungen, in denen sein Denken nichts mehr half, so schön und ergreifend das Aussehen von Kosmos und Erde oder der Blick ins All auch sein mochten. Und man glich hier einer
Ameise, der man einen Witz in einer Fremdsprache erzählte – doch sie war nicht in der Lage zu verstehen, kannte das Lachen nicht und jede Bemühung, ihr selbst den einfachsten Sachverhalt mit Wörtern
zu erklären, war absurd und musste zum Scheitern verurteilt sein.
Klar war aber, dass das, was uns einst schuf, unsäglich lange zurücklag, viel länger, als es ein Auge gab, das überhaupt etwas zu sehen vermochte. Was
wir heute Leben, Wahrnehmung, Erfahrung oder Bewusstsein nennen, entstand ja erst viel, viel später, und es war im Prinzip stets die Erkenntnis des Vorhandenen. Wie die auf alten Fotografien abgelichteten Personen
nicht mehr unter uns weilen und sich an ihre Gesichter und Namen, ihr Tun und Wirken kaum noch jemand zu entsinnen vermag, bedeckten den Himmel fast nur Bilder der Vergangenheit; und ihre Gemeinsamkeit bestand
letztlich darin, dass ihr Licht gleichzeitig von uns gesehen werden konnte. Und Sterne, die es seit Ewigkeiten nicht mehr in ihrer heute sichtbaren Form und an ihrem jetzt gesehenen Ort gab, vermeinten wir zu
schauen, als lägen sie vor uns, seien im gegenwärtigen Augenblick tatsächlich noch vorhanden, vielleicht bewohnt, von wem auch immer bevölkert, mit besonders schnellen Raumschiffen der Zukunft vielleicht einmal zu
erreichen und zum Greifen nahe. So benannten wir Dinge, die nicht mehr waren, blickten nur zurück in verschiedene Zeitalter des einst Gewesenen und tauften Totes.
Doch zurück in unser menschliches Leben. – Nicht nur wenn unter leisem Grollen eine dunkle, von Blitzen durchzogene Wolkenwand emporstieg, sondern
auch an Tagen, an denen unauffällig, fast ohne Wind, doch stetig der Regen fiel, lohnte es, den Schirm einmal zu senken oder seine Kapuze zu lüften und über sich in die Wetter zu blicken. Das langsame
Geschiebe der Wolken, die endlos strömende Fülle ihrer wandernden, hier sich auflösenden, dort sich türmenden Formen und Farben und ihre stets sich verändernde, doch keinmal sich wiederholende graue Vielfalt
waren dieses bescheidenen Aufwands wert. Der Himmel dankte es auf seine Weise, indem er nie zögerte, seine Schätze wie ein Fürst mit vollen Händen zu verschenken.
Oder man nehme jene Tage, an denen vereinzelt große weiße Wolken am blauen Himmel vorüberzogen und dabei immer wieder einmal vor die Sonne gerieten.
Sie warfen dann Schatten, die ihrer dunkleren Farbe wegen wie kleine Inseln auf den lichteren Feldern schwammen und den Eindruck erweckten, es habe nur an diesen Stellen geregnet und der Boden sei
allein hier benetzt worden. Diese Inselchen standen jedoch nicht still, sondern sie eilten manchmal von einem Acker zum nächsten und veranstalteten so ein Schau- und Schattenspiel eigener Art.
Die Wunder der Regenbögen, die ich in manchen Jahren täglich sah, versuche ich nicht erst zu beschreiben, denn das Zusammenwirken von Sonne und Regen,
das Aufleuchten und Verblassen der farbigen Streifen und die Gesetze ihrer Entstehung, die durch ihre Brechung das Wesen des Lichts offenbaren und bei der Überfülle von Erscheinungen für den Menschen eine der
schönsten und erhebendsten Zierden der unbelebten Natur sind, übertreffen meine Fähigkeit der Beschreibung bei weitem. Und wie bei einem Kunstwerk, das man mit Worten wiedergeben möchte und letztlich
doch gar nicht zu erreichen imstande ist, lassen sich allenfalls sichtbare Unterschiede, Äußerlichkeiten, Auffälligkeiten, Einzelheiten, Ähnlichkeiten, Merkmale, Verfahren, Übereinstimmungen, Gegensätze oder
Regelmäßigkeiten erfassen und mit Bekanntem vergleichen, nie jedoch das Ganze, das eigentlich schweigend Schöne, das begrifflos Berührende, das wortlos Sprechende und sprachlos Ergreifende, das jedem Menschen ein
wenig anders, indes aber verständlich erscheint.
Dass all solches Geschehen nicht die Historienmaler herbeiführte, ist so begreiflich wie der Umstand, dass bisweilen Landschaftsmaler, und auch sie nur
äußerst selten, diese Gegend aufsuchten, um an dem von Höhen und Bergen ungetrübten Schauspiel des Himmels teilzuhaben, ihn als eine der echten Sehenswürdigkeiten zu betrachten und in ihren Gemälden, auf ihre Weise,
mit den ihnen zu Gebote stehenden Mitteln und Möglichkeiten wiederzugeben und die Natur zu preisen. Dieses Preisen ging weit hinaus über eine bloß anerkennende Wahrnehmung, eine etwas gleichgültige Billigung oder
selbst ein gutmütig bestätigendes Lob all dessen, was sich hier ausbreitete. Es war Bewunderung, lautloses Staunen und man könnte sogar sagen eine Art von stillem Dank, dass man eines solchen Anblicks überhaupt
teilhaftig werde, einen kleinen Ausschnitt der ungemeinen Kraft und ihres ungeheuren Reichtums zu sehen bekam, ihn miterleben, empfinden und letztlich auch genießen durfte. All dies verstand sich ja nicht von
selbst; denn vieles, das zu dem Ganzen ebenso wie zu dem Sichtbaren beitrug, entzog sich der unmittelbaren Wahrnehmung des Menschen, war im Großen wie im Kleinen dem Zugang verschlossen und wurde erst auf indirektem
Wege durch eigens erdachte, erfundene und im Laufe der Geschichte immer wieder verbesserte Hilfen bewusst, welche das eben noch Empfindbare als Ausgangspunkt nahmen und alles, was das Fassungsvermögen des
Menschen überstieg, in eine den Sinnen zugängliche und dem Geist verständliche Sprache übertrugen.
Gräben und manche Gebiete des Waldes waren vielleicht das Einzige, das nicht von Menschenhand geformt war, wenngleich ihre Anlage, hier wie anderswo
auch, mitunter auf Menschen zurückging. Doch zumeist pflegte und nutzte man nur, was nicht gerade störte und durch die Gestalt des Geländes vorgegeben war, Gewinn verhieß, die Arbeit erleichterte, oder Material und
Zeit im Vergleich mit anderswo sparte. Ebenso wie viele Straßen und Wege sich an den Ufern fließenden Wassers und damit an Gräben entlangzogen, passte sich das Wasser je nach seiner Menge der Landschaft an und schuf
selbst in gefrorener Gestalt durch Fluss und Stauung noch jene Bahnen, die immer abwärts der Erdmitte zustrebend nach ungezählten Staustufen durch ihr Gefälle immer geradliniger wurden und irgendwann in einen See
oder ein Meer mündeten.
Doch bei dem zeitweiligen Säubern der Gräben oder dem Zurückschneiden der Büsche, die dem ungehinderten Abfluss des Wassers dienten und seine Ausbreitung
auf dem angrenzenden Land verhinderte, achtete man kaum darauf, was hier wuchs, denn es war nur der Rand des Bestellten, der dem Feld als eigentlichem Nutzbringer zugute kommen sollte und den man befahren oder
begehen durfte. So gab es in den Gräben und ihrer im Jahresverlauf zeitweilig ganz verschwindenden Feuchtigkeit allmählich eine eigene Pflanzen- und Tierwelt, und manche Tiere suchten jene Stellen auf, an denen
ihnen das Wasser zugänglich war, sich auch bei längerer Trockenheit nicht verlor und das durch seinen Fluss eine gewisse mechanische Reinigung erfuhr.
Wie sollte ich diesem Land nicht dankbar sein, wie nicht den Bäumen, Sträuchern und Gräsern, den Tieren und Wassern für ihre Ruhe und ihr großes Schweigen?
Sie hörten von mir Wut und Fluch, mehr Dummes als Kluges, sahen bisweilen meine Tränen, kaum je ein lachendes Gesicht, ertrugen meine überflüssigen Launen, erfuhren von meinen Hoffnungen und Enttäuschungen, selten
von Freuden und häufig von Sorgen, ohne dass ich ihnen je hätte erklären oder sie hätte überzeugen müssen, dass all dieses gar nichts mit ihnen, sondern einzig mit mir selbst und meinem Leben zu tun habe, und sie im
Grunde ebenso abhängig und ausgeliefert waren wie ich. Gab es etwas wie Trost von ihrer Seite, so bestand er allein schon in ihrem Dasein, ihrem Vorhandensein, ihrer Anwesenheit und einer Ähnlichkeit des
Schicksals, denn uns allen war dasselbe bestimmt, und es ging dem Menschen „wie dem Vieh“, wie der Prediger sagt. Und sie nahmen meine Laute gleichmütig hin, mit einer Art stiller Würde und ohne jeden
Widerspruch, so dass mir im Grunde gar nichts anderes übrig blieb, als stets bald wieder zu verstummen und mich auf mich selbst zu besinnen, mein Leben hinzunehmen, wie es eben war und ist, und dem lieben Gott, den
es vielleicht hinter allem gab, seinen Willen zu lassen.
Kapitel 2 Die Wege
Warf ich vor Antritt eines Spaziergangs zumeist einen Blick auf den Himmel und seine Bewölkung, um nicht bei unerwartetem Regen ohne Kopfbedeckung oder
bei Sonnenschein allzu warm angezogen zu sein, so begannen sich die Probleme des Tages beim Verlassen des Hauses, dem Überqueren der Straße und dem Erreichen der ersten Felder zwar nicht zu lösen, doch ihren Druck
zu lockern. Der Alltag fädelte sich aus durch die Andersartigkeit der Welt, die ich hier betrat, durch die Wahl der Wege, durch die Aufmerksamkeit, die sich neuen Dingen zuwandte und die somit ablenkte, durch meine
schlichten Betrachtungen wie die vereinzelten Gedanken, die mich begleiteten. Diesen Gedanken konnte ich nun ohne Zwang nachhängen, sie fortspinnen, sie in eine andere Richtung lenken, sie zurückstellen oder
ganz fallenlassen, um sie ein andermal vielleicht wieder hervorzuholen oder endgültig aufzugeben. Als habe man nach langem mühevollen, aber vergeblichen Versuchen, eine verrostete Schraube zu drehen, plötzlich ein
erstes, leises Nachgeben in ihrem Gewinde verspürt, begannen die Gewichte sich bisweilen zu verschieben. Sogar die Widrigkeiten des Lebens, die Anfechtungen, die auch den Glücklichsten, Begütertsten und Gläubigsten
unter uns nicht erspart bleiben, wurden manchmal erträglicher. Welche Kraft hatte dies alles ins Leben gerufen, und welche Kraft sorgte zugleich für ihr Ende, ihr Vergehen? War es wahr, dass man bestimmte Fragen
einfach nicht stellen dürfe, oder hieße das nur, etwas zu glauben, was heute einigen Naturwissenschaftlern oder selbsternannten Predigern von Weisheiten so scheint, morgen aber bereits überholt sein kann?
Auf dem Heimweg wurden die nimmermüden und kleinen Sorgen des Alltags, die uns den Schlaf oft rauben und selbst im Traum noch bedrücken, freilich meist
wieder vorstellig, doch ihre Klinge war ein wenig stumpfer, ihre Klage ein wenig leiser geworden, und die Linderung hielt eine Weile an. Nur die Regel,
dass es abwärts schwieriger gehe als aufwärts, schien Bestand zu haben, ob man nun einen Weg, eine Treppe oder eine Leiter emporstieg, einen Baum erkletterte oder anderes tat. Denn war beim Steigen vor allem der
Ehrgeiz, das Streben des Menschen maßgeblich, kam beim Fallen die Anziehungskraft der Erde zum Tragen, der nur nachzugeben das Einfachere, aber oftmals Gefährlichere war.
Dass meine Schritte gewöhnlich zunächst nach Osten wiesen, war kein Zufall, denn ich wollte ins Land schauen und seine Weite wie seinen Wandel im
Gegensatz zur Umgrenztheit und Immergleichheit des Zimmers vor mir sehen. Da meine Spaziergänge seinerzeit aber zumeist am Nachmittag stattfanden, hatte ich kein Bedürfnis, mir gleich nach Verlassen des Hauses
die Sonne ins Gesicht scheinen und mich blenden zu lassen, vielleicht mit dem Niesen zu kämpfen, zu blinzeln oder mit der Hand die Augen zu beschatten, was später, je nach Bewölkung, unter Umständen nicht
zu vermeiden war. Auch dem Wind, der nicht selten kräftig aus westlichen Richtungen blies und dem man inmitten der flacheren Felder preisgegeben war, wollte ich ungern entgegengehen, da er manchmal die Augen tränen
ließ oder meinen Strohhut mit sich nahm, den ich der Sonne wegen gelegentlich trug. Lieber hatte ich den Wind zunächst im Rücken, um mich von ihm ein wenig nach Osten treiben zu lassen, und so fiel die Wahl
anfangs nicht schwer. Im Winter kam der Wind freilich aus östlichen Richtungen und war mitunter beträchtlich kälter als der Wind aus dem Westen, denn er überstrich nicht das Meer, sondern kam über das Land
daher, so dass ich Handschuhe und Schal kein zweites Mal vergaß.
Im Laufe der Zeit hatte ich den Wunsch, jeden mir zugänglichen Weg wenigstens einmal zu begehen, egal, in welche Himmelsrichtung er führte und ob er sich
unversehens in einer Wiese oder einem Acker verlor und mich zur Umkehr zwang oder nicht. Die Unumgänglichkeit, auf demselben Weg zurück zu müssen, war abzusehen und stellte keinerlei Nachteil dar. Der scheinbare
Misserfolg wurde zu einer neuen Erfahrung, mochte diese auch meinen Wünschen nicht entsprechen, noch so gering sein und anderen sogar als minderwertig erscheinen. Da es jedoch meine eigene Erfahrung und nichts
Übernommenes war, schuf sie eine so einzigartige wie unersetzliche Grundlage des Zugangs und Verstehens, welche mir weit mehr als nur die Entfernung und die für sie benötigte Zeit sagte. Allmählich fügten sich
die Flächen, die Niederungen und Anhöhen, Wege und Abzweigungen ineinander. Zusammenhang, Ordnung und Orientierung, eine unverwechselbare landschaftliche Einheit entstanden, in der ich mich bald wohl so leicht
zurechtfand wie ein Bauer, der hier über die Jahre hin sein Feld bestellte, ein Imker, der, sobald es im Mai wärmer wurde, seine Bienenstöcke in die Rapsfelder brachte, die erst Grün, dann in voller Blüte fast
nur noch Gelb und dann allmählich wieder Grün zeigten, oder ein Waldarbeiter, der für das Befahren der Waldung und das anschließende Abholzen die Bäume mit Farbspray markierte.
Diese Kenntnisse betrafen freilich nur die Orte, weniger das Tier- und Pflanzenreich, die landwirtschaftlichen Methoden des Anbaus, die geologische
Schichtung, das Alter, die Nutzung, den chemischen und biologischen Aufbau des Erdbodens oder die astronomische Bewegung der Erde und anderer Gestirne, Fragen der Witterung und vieler Dinge mehr, die alle
Einfluss nahmen und ihren Beitrag zum Gedeihen oder Kümmern der Gewächse leisteten. Denn mein Wissen um sie war und ist vielfach nur sehr durchschnittlich und unzureichend, und ich vervollständigte wie gewöhnlich
das Fehlende durch richtige oder falsche Schlüsse oder die Vermutung, wo etwas herkam, warum es sich in der vorhandenen Form und keiner anderen zeigte und was dies wiederum zur Folge haben mochte. Ursachen und
Wirkungen wuchsen so zu einer ständig länger werdenden Kette heran, deren Start und Ziel im Dunkel lagen und von der ich allenfalls ein winziges Stückchen, für das meine Kenntnisse eben ausreichten, zu fassen bekam.
Gleichwohl beschäftigten mich Dinge manchmal länger, und zu Zeiten belas ich mich auch über sie, so dass sich das Nachdenken in freier Natur am Schreibtisch fortsetzte. Nicht ohne Grund hätte man aber behaupten
können, dass ein jedes Sandkorn, ein jeder Grashalm, ein jedes Ästchen, Körnchen, Steinchen und Stäubchen, gleichgültig, woraus sie bestanden oder welcher Gattung sie angehörten, zu dem Ganzen beitrugen, die von
ihrem Ort bedingten Anforderungen erfüllten und unabhängig davon waren, ob man sie guthieß oder nicht, sie als schön oder hässlich empfand, ihnen Beachtung schenkte oder sie gar nicht wahrnahm.
Dass ich unterwegs Menschen begegnete, war die Ausnahme, sofern es sich nicht um die spielenden Kinder bei den Siedlungen handelte oder die
sonntäglichen Spaziergänger, die sich zwischen Mittagstafel und Kaffeestunde auf den besseren Wegen Bewegung verschafften. Gab es Menschen wider Erwarten weiter draußen, waren sie zumeist tätig und mit
irgendwelchen Arbeiten befasst. Sie pflügten, eggten, säten, besprühten, düngten, mähten, ernteten, reinigten die Gräben, verlegten Drainagerohre und verschlossen sie mit Froschklappen, hämmerten an
Weidezäunen, besserten die Frostschäden der Wege aus, füllten zerkleinerten Bauschutt oder zerbrochene Dachziegeln in Schlaglöcher, gossen Teer in die Risse der asphaltierten Straßen, legten Futtersilos an
und bedeckten sie mit wasserdichten Folien. Waren solche Arbeiten vollbracht, was durch den regen Gebrauch von Maschinen und motorisierten Fahrzeugen oft recht schnell geschah, konnte alles wieder wie ausgestorben
wirken, hätte es nicht vom Frühjahr bis zu den ersten Frösten die Kühe auf den Weiden gegeben, ein paar Pferde oder Schafe bei den Häusern, einen krähenden Hahn oder kläffende Hunde auf einem der verstreuten und
zumeist zwischen hohen Bäumen versteckten Gehöfte.
Einmal sah ich von weitem auch einen jungen Mann, der auf einem Acker mit seinem Fahrrad in einer großen Schlammpfütze herumfuhr, wobei ich, nach
anfänglicher Belustigung, durch den Ernst und die Unverdrossenheit des Mannes zu der Ansicht kam, dass er sich vielleicht auf eine Geländefahrt vorbereite und hier seine Sportlichkeit steigere. Und einmal
kam ich inmitten der Felder an einem Jäger vorbei, der an seiner geschulterten Flinte erkennbar war und sich gerade mit jemandem unterhielt. Ich grüßte, man grüßte zurück, und unsere Wege trennten sich wieder.
Danach geschah monatelang nichts, was sich vom Alltag unterschied, und man konnte, wenn man wollte, erneut seine Aufmerksamkeit den jahreszeitlichen Veränderungen schenken, dem Steigen und Sinken der Temperaturen,
den Stunden des Sonnenscheins oder der Menge des Niederschlags, der Richtung und Stärke des Winds, dem Gedeihen, Erblühen und Welken der Pflanzen, den Beeren, die, oft aus schneeweißer Blüte entstanden,
sich allmählich dunkelrot oder blauschwarz färbten, dem Fortschreiten der Ernte, den Gängen der Wühlmäuse oder den Hügelchen der Maulwürfe, die manchen vom Regen gesäuberten schönen und leuchtenden Stein aus dem
Erdreich ans Tageslicht gefördert hatten.
Auf diesen Spaziergängen sah ich auch eine Zeitlang einen älteren, aber noch kräftigen Mann auf einem Feld arbeiten, wahrscheinlich einen Bauern oder den
Eigentümer des Ackers, doch konnte ich trotz mehrfacher Beobachtungen aus der Ferne nicht erkennen, worin seine Tätigkeit bestand. Verständlich war mir nur, dass sie sowohl mit dem Stück Land als mit dem
Regenwasser, das hier niederging, zu tun haben müsse. Der Mann hatte an verschiedenen Orten seines nicht gerade kleinen, aber unbestellten Feldes mit einer Schaufel Gruben ausgehoben, wie man an den neben ihnen
liegenden Erdhügelchen sehen konnte. Stand der Mann in einer dieser Gruben, wies sein roter Kopf auf große Anstrengungen und viel Sonnenschein hin. Zugleich lagen lange Stränge eines gelben Schlauchs aus Pastik
umher, der auch in eine der Gruben führen mochte. Der Trecker, mit dem der Mann gekommen war, stand in der Nähe auf dem Feld, öfters mit laufendem Motor, doch wusste ich, dass sich mit Treckern eine
Vielzahl von Geräten und Arbeiten verbinden ließen, denn immer benötigte man zunächst eine Kraftquelle, als welche in diesem Fall der Motor des Fahrzeugs im Leerlauf diente.
Da sich dieses sich hinzog, nutzte ich die Gelegenheit, als sich unser Hund einmal dem Geschehen näherte, um alles aus der Nähe zu sehen und zu
beschnuppern. Da der Mann aufgeschlossen schien und auch vor dem Hund keine Zurückhaltung zeigte, fragte ich ihn, was er eigentlich tue. Und vielleicht froh darüber, dass seine sichtlich schwere Arbeit
überhaupt von jemandem zur Kenntnis genommen werde, erklärte er bereitwillig, dass man hier vor hundert Jahren Entwässerungsrohre verlegt habe, dass aber keine Aufzeichnungen darüber vorhanden seien. Daher müsse er
jetzt überall graben, um nachzusehen, ob es solche Rohre gebe oder nicht.
Schließlich verlegte er neue Rohre, damit sich das Wasser auf dem nach Norden leicht abfallenden Acker nicht immer wieder staue, und bestellte das Feld mit
Grünsaat. Und fortan grüßten wir uns manchmal durch kurzes Heben der Hand oder durch Zuwinken, wenn wir einander ansichtig wurden, denn die Entfernungen und das Motorengeräusch des Treckers waren zu groß, sich außer
mit Zeichen zu verständigen. Einige Jahre später wuchs Raps auf dem Feld, und sein einheitliches Gelb blüte wie stets im Mai, und ich hatte vergessen, wie der Mann, dessen Namen ich nicht kannte,
eigentlich ausgesehen hatte, denn ich hatte ihm nur kurz ins Gesicht blicken können.
Noch bevor die Felder abgeernet waren, auf denen man immer seltener Kartoffeln und immer mehr Mais anbaute, kamen oft große Scharen von Kranichen herbei,
die sich über die Jahre hin daran gewöhnt hatten, auf ihrem Zug in den Süden hier Ruhe, Schutz, Wärme und vor allem Futter zu finden. Allmählich wurden sie heimisch und zogen vielleicht gar nicht mehr bis nach
Südfrankreich, nach Spanien oder vielleicht sogar bis Afrika hinunter. Schon im Frühherbst konnte man sie sehen, im Spätherbst oder in den Wintermonaten fast täglich, und nicht selten waren sie bereits beim
Verlassen des Hauses zu hören. Noch ehe ich sie erblickte, machten sie sich durch ihre eigentümlich kehligen Rufe bemerkbar, die erstaunlich weit drangen und mit denen sie sich wohl verständigten, um sich zu
sammeln, beieinander zu bleiben, sich zu locken, zu warnen oder eben eine gute Futterstelle anzuzeigen. Am Himmel flogen sie manchmal nur zu zweit, dann aber auch in eigentümlich verwinkelten, auffällig
langgestreckten Zügen mit vielen Dutzenden von Tieren in Linien, die nach vorne in einen einzelnen, Richtung weisenden Vogel mündeten. Ich schäme mich meiner Rührung nicht, als ich einmal ganz unerwartet
einen großen Zug dieser Tiere hoch oben in den Lüften sah und ihn lange am Himmel verfolgen konnte, bis die Kraniche, immer kleiner werdend, schließlich am Horizont verschwanden oder sich hinter Baumkronen meinem
Blick entzogen und ein Bild ganz unnachahmlicher Gewissheit, Bestimmung und Zuversicht, von Zusammenhalt, Ruhe und Schönheit ergaben.
Vom Boden nahmen die Kraniche, was nach der Ernte an Resten von Mais noch übrig war, wenn sie zum Verdruss der Bauern, die ihre Erzeugnisse lieber der
örtlichen Biogas-Anlage zum Zwecke der Stromgewinnung verkauft hätten, auch an den noch nicht abgeernteten Pflanzen fraßen und so den Ertrag schmälerten. Im Winter, wenn die Böden hartgefroren waren und ich
quer über die leeren Äcker wie über einen zugefrorenen See an sonst völlig unzugängliche Stellen gelangen konnte, sah ich noch manch unversehrten Maiskolben voll reifer tiefgelber Körner am Boden liegen,
so dass für die Nahrung der Rehe und Hasen, der Fasane und Wildenten, aber eben auch der Kraniche gesorgt war. Kam ich den Kranichen zu nahe, flog die ganze Versammlung empor und suchte sich einen ungestörteren
Platz, und auf einem Feld in der Ferne wirkten sie mit ihren langen Hälsen und großen Körpern wie eine sich lagernde Karawane winziger Kamele.
Oft waren meine Wege allseits von Gras überwuchert, das ein- oder zweimal im Jahr maschinell geschnitten wurde. Sie waren als Zufahrt für die
schweren landwirtschaftlichen Geräte und Fahrzeuge bestimmt, und große morsche Äste, die von den Bäumen gefallen waren, wurden ebenso entfernt wie Zweige und Ranken, die in den Weg hineinwuchsen, kleine,
sprießende Eichen, Birken und Ebereschen oder Bäume, die der Sturm geknickt hatte. Dies alles hätte früher oder später das Befahren und damit die Bestellung der Äcker oder das Einbringen der Ernte behindern können.
Aber auch ohne diese Hindernisse wäre mit einem normalen Auto oder selbst einem Fahrrad hier kein Durchkommen gewesen, denn sobald sich der Weg nur ein
wenig senkte und wieder anstieg, schuf er eine Mulde, in der sich der Regen sammelte und das Erdreich aufgeweicht wurde. Pfützen und Schlamm waren die Folge, und jeder meiner Schritte, der tiefer als erwartet
einsank, schmatzte im nassen Gras. Besser war es, sich an solchen Stellen zu beeilen, um nicht stecken zu bleiben oder zumindest einem der Füße zu einem eisigen Bad zu verhelfen, das man dann wohl oder übel
eine Weile im Schuh mit sich tragen musste. Und da wohl über Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte hinweg immer eine ähnliche Art von Arbeit auf den Feldern verrichtet wurde, wuchsen manchmal mitten auf wenig begangenen
Wegen Grüppchen von Binsengras, wie man es sonst allenfalls nahe bei den Gewässern antraf. Nur Fahrzeuge mit starken Motoren und riesige Reifen mit groben Profilen waren diesen Wegen gewachsen, und einzig an den
Abdrücken der Hufeisen oder an Pferdeäpfeln sah man, dass man hier gelegentlich auch entlangritt. Noch seltener waren die Fährten wilder Tiere, ohne dass ich genauer erkennen konnte, zu wem sie gehörten. Da aber
bisweilen Rehe mit ihren dunklen Köpfen so unbeweglich aus Getreidefeldern ragten, dass man sie kaum sah, oder sie wie die Hasen rasch davoneilten, stammten die Spuren wahrscheinlich von ihnen, sofern es nicht
die Pfoten eines Hundes waren, der einen Fußgänger, wie mich in späterer Zeit, oder einen Reiter begleitet hatte.
Kapitel 3 Der Hof
Eines Tages schlug ich einen Weg ein, der mir zunächst zu lang, bei anhaltendem Regen sogar als beschwerlich erschienen war, der aber zu jenen Strecken
gehörte, die ich bald recht gerne nahm. In großem Bogen führte er erst durch die Äcker und Weiden in Richtung Rohr hinab, später dann zur Hohen Lucht hinauf. Hier oben, auf dem Scheitel der Anhöhe, bog ich
gewöhnlich links ab in den von rechts heraufkommenden asphaltierten Alten Postweg, der mich dann schnell nach Deinstedt und wieder nach Hause zurückbrachte.
Als das Wetter einmal gut war, ich mich noch frisch fühlte und gerne noch etwas Neues gesehen hätte, verzichtete ich auf den schnellen Rückweg, überquerte
den Alten Postweg und ging geradeaus in Richtung der von den üblichen motorisierten Fahrzeugen gebrauchten asphaltierten Landstraße zwischen Deinstedt und Malstedt weiter, auf der rechten Seite vorbei an einem noch
immer mit Stacheldraht umzäunten ehemaligen Militärgelände und auf der linken einem riesigen Maisfeld mit Sicht auf die Biogasanlage und ihrem haushohen, manchmal von Krähen oder Tauben umschwärmten Flachsilo
in der weiteren Ferne. Ich ahnte nicht, dass mich in Kürze eine kleine Besonderheit erwarten würde, und so stieß ich beim Erreichen der genannten Landstraße auf jenen Punkt, an dem zwei Schilder besagten, dass die
Straße nach links in Richtung Deinstedt die Malstedter Straße, jene nach rechts in Richtung Malstedt die Deinstedter Straße heiße. Diese Namengebung, die sich natürlich ganz aus dem Gebrauch der Straßen ergab,
hatte indes nichts Ungewöhnliches. Doch umso ungewöhnlicher erschien mir das Gehöft, das in einem Dreieck von Haupt- und Seitenstraße lag, denn man hielt sich hier die größte Vielfalt von Tieren, die ich in der
Umgebung kannte.
War man auch versucht, von einem kleinen Zoo zu sprechen, so wäre diese Bezeichnung doch nur mit einer gewissen Nachsicht zu verstehen gewesen, denn es
waren keine allzu seltenen, fremdländischen oder gar exotischen Tiere wie Elefanten, Zebras, Krokodile, Gorillas, Giraffen oder Nashörner, die man zu sehen bekam, sondern fast ausschließlich die verbreiteten Enten,
Gänse und Hühner, Ziegen und Schafe, Hunde und Katzen. Manches Tier gehörte freilich zu einer Rasse, die man nicht alle Tage zu sehen bekam oder die wenigstens mir unbekannt war. Nichts deutete darauf hin, dass man
die Tiere zur Schau stellte und ihretwegen Besucher oder irgendeine Form der Anerkennung erwartete. Sie wurden sichtlich auch nicht gehalten, um Arbeiten zu verrichten oder sonst einen materiellen Vorteil aus ihnen
zu ziehen; vielmehr sah es aus, als ob hier Menschen wohnten, welche die Tiere gern hatten. Wie diese Leute heißen oder aussehen, weiß ich zwar selbst einige Jahre später noch nicht, da ich es nicht
zufällig erfuhr und keine Erkundigungen einziehen wollte. Doch entweder handelte es sich um eine größere Familie oder man verzichtete freiwillig auf längere Abwesenheit durch Urlaub und Reisen, da es den Menschen
Freude machte, von Tieren, die man anderswo vielleicht sogar nur als Vieh bezeichnet hätte, umgeben zu sein und sich mit ihnen zu beschäftigen, ihnen regelmäßig Futter und sauberes Wasser zu bringen, ihnen kleine
Behausungen zu bauen, ihre Ställe zu reinigen und sie eben so zu pflegen, wie es ihre Bedürfnisse erfordern.
Die Tiere waren nicht angebunden und konnten sich recht frei bewegen, sehe ich von einem Unterstand nahe der Seitenstraße ab, wo ich im Winter immer
einige büffelartige, struppige braune Tiere mit großem wuchtigem Gehörn sah. Sie hatten zwar ein Dach über dem Kopf, standen zugleich aber an der frischen Luft und konnten südwärts in die weitere Umgebung blicken.
Nach Westen, woher der Wind oft über das Meer wehte, waren sie geschützt. Diese Rinder, die fast etwas von einer bereits ausgestorbenen Rasse hatten, konnten dank starker Barrieren nicht entweichen und hielten
sich daher fast immer an derselben Stelle auf, hatten aber wohl auch einen Stall oder eine sonstige Behausung, in die sie sich bei einbrechender Dunkelheit zurückziehen konnten. Da ich sie aber einmal auf einem
erdigen Sonnenplatz in der Nähe ihres Unterstands und später auf der sich anschließenden großen Weide liegen sah, gab es wohl auch einen geplanten Ausgang, vielleicht sogar einen Auslauf für sie. Trotz ihres
wilden, urtümlichen Aussehens machten die Tiere stets einen friedlichen, ja zufriedenen Eindruck, zupften sich aus einer wohlgefüllten Raufe oder einem gepressten Ballen gelegentlich etwas Heu oder Stroh heraus
und kauten dieses Futter gemächlich. Nie vernahm ich ihre Stimmen, und nur selten hörte ich ihr Schnaufen oder wie sie sich den Kopf an einem der Pfosten rieben.
Einigen freilaufenden Enten, Gänsen und Hühnern begegnete ich oft schon auf der Seitenstraße, die den Alten Postweg mit der Hauptstraße verband, und sah sie
von weitem. Sie blieben meist in der Nähe des Hofes, hielten sich aber nicht an die Grenzen des Grundstücks, sondern liefen umher, wie es ihnen gefiel, und wühlten im Schlamm der Gräben, wie es ihre Art ist. Einige
von ihnen traf ich sogar einmal so fern an, dass ich dachte, sie hätten sich verlaufen und könnten den Rückweg nicht finden; doch ich hatte mich getäuscht. Eine kleine Schar, vielleicht sieben oder
acht Enten, weidete mehrfach auf der Wiese rechts von der Seitenstraße. Kam ich dann heran und sahen sie mich, sammelten sie sich eilig und überquerten im Gänsemarsch meinen Weg, als wolle ich ihnen zu einer
dafür üblichen Stelle in Hausnähe etwas zu fressen bringen, eine Gelegenheit, die zwar unerwartet kam, die sie aber auf keinen Fall versäumen wollten.
Auch ein Hund fehlte nicht, und er schlug hinter einer dichten Hecke an, sobald er meine Schritte hörte, während eine Katze sich dann langsam von ihrem
Lager erhob, gähnte, streckte und verschlafen ins Gebüsch kroch, um die mir zuzuschreibende Störung ihrer wohlverdienten Ruhe kundzutun. Dieser Hof, zu dem ein Wohnhaus, mehrere Stallanbauten und kleine einfach
gezimmerte Hütten gehörten, grenzte an den unasphaltierten Weg, auf dem ich kam, und an eine große, mit einem Zaun umfriedete Weide, auf der die Tiere grasen und auch etwas Bewegung finden konnten. Meistens, wenn
ich vorüberging, war diese Weide zwar leer, manchmal sah ich hier aber auch das kleine Pferd.
Kapitel 4 Das kleine Pferd
Das kleine Pferd, bei dem es sich nicht um ein junges, sondern das ausgewachsene Tier einer kleinwüchsigen
Rasse handelte, war deutlich größer als ein Schäferhund, doch wiederum kleiner als ein Esel, und hatte dunkelbraunes, ziemlich langhaariges und etwas zotteliges Fell. Fast nie war dieses Pferdchen alleine, sondern
meist stand es nahe bei einem größeren, hellgrauen und ebenfalls etwas langhaarigen Pferd, das nicht ganz so groß war wie ein hierzulande übliches Reitpferd, doch größer als ein erwachsener Esel. Offenbar
hatten sich die Tiere angefreundet, schauten, da das Schicksal sie nun einmal verband, gemeinsam in die Welt, suchten vielleicht auch so etwas wie Beistand voneinander, etwas Gesellschaft und Abwechslung oder
nur die Nachbarschaft und den Stallgeruch eines Artgenossen, denn sie beide waren auf lange Zeit die einzigen Pferde, die ich hier erblickte.
Manchmal sah ich das kleine Pferd nur mit Mühe, da es sich halb hinter, halb unter dem größeren Pferd verbarg, und wenigstens einmal hatte ich den Eindruck,
dass sich das größere Pferd gleichsam schützend vor das kleinere stelle, da dieses sich gerne wie ein Hund niederlegte und dann noch kleiner und wehrloser wirkte. Da man an einen solchen Anblick nicht gewöhnt war,
musste man in der Tat zweimal hinsehen, um sich zu überzeugen, dass es sich bei dem, was da am Boden ruhte, um ein Pferdchen und nichts anderes handelte. Einmal sah ich sie an einem frostigen Tag in der
Wintersonne beieinander stehen und sich gemeinsam wärmen. Und hin und wieder kam es auch vor, dass ich das kleine Pferd überhaupt nicht sah, selbst wenn das größere da war. Niemals sah ich die beiden jedoch auf
einer der angrenzenden Wiesen herumtollen, einander verfolgen oder im Laufschritt galoppieren, und auch von ihnen beiden hörte ich nie ihre Stimmen.
Oft freute ich mich im voraus auf meinen Rundgängen, das kleine Pferd nun in Kürze wiederzusehen, denn bald war es eines der Ziele meiner fast täglichen
Wege. Hatte ich ein solches Ziel, meist nur eine Abbiegung, erreicht, schloss sich die Rückkehr an, die zwar in möglichst gerader Linie verlief, doch je nach Kräften und Witterung manche Kurven und
vielerlei Winkel einbeziehen konnte, gelegentlich auch größere Abstecher aufnahm und natürlich in überschaubarer Zeit am Ausgangspunkt enden musste. Und wenn es mir auch nicht einfiel, irgendeine Route festzulegen
und mich an meine eigenen Vorschriften zu halten, schloß doch fast ein jeder solcher Weg zuweilen einen Besuch des Pferdchens ein, und ich machte gerne einen Umweg. So war ich stets etwas enttäuscht,
wenn das kleine Pferd nicht aus seinem Stall herauskam oder sich neben dem Schimmel zeigte, womöglich sich gar mit Absicht versteckte.
Leider kam es häufiger vor, dass ich das kleine Pferd nirgendwo sah. Dies gab mir nämlich die Gelegenheit, das Pferdchen zu begrüßen und, als hätte ich
lange nach ihm Ausschau halten müssen und sei nun froh, seiner endlich ansichtig zu werden, ihm etwas erstaunt zuzurufen: „Ja, da ist ja das kleine Pferd …!“ Und mit leichtem, nie ernst gemeintem
Vorwurf, doch zugleich der Genugtuung, es heute überhaupt noch zu sehen, pflegte ich, natürlich ohne je eine Antwort zu erwarten, etwa anzufügen: „Ja, wo steckst du denn!?“ Sofern ich danach
überhaupt noch etwas sagte, erging ich mich in Lob, betonte, dass es ein gutes Pferd sei, bewunderte sein schönes Fell und vergaß auch den Schimmel nicht, sobald er nur in Hörweite war. Ich wies beide auf
die Güte des Futters hin, selbst wenn ich über seine Trefflichkeit nur zweifelhafte Kenntnisse besaß, und ermunterte beide überflüssigerweise, sich des großen Vorrats doch sattsam zu bedienen und auch das
Saufen nicht zu vergessen. Gewiss wusste ich, dass Tiere ihren eigenen Gesetzen folgen und genauer als ich wissen, was für sie gut ist, und dass ich in meiner Einfalt kein Recht hatte, allein ihren Anblick als
Gegebenheit hinzunehmen. Wer weiß, wie groß ihr Verlangen war, sich zu zeigen oder zu verbergen, und wie sehr sie sich an die Blicke der Menschen erst hatten gewöhnen müssen, ehe sie so etwas wie Neugierde empfanden?
All dies waren durchaus willkommene Unterbrechungen meines manchmal etwas eintönigen Gehens, die aber kaum eine Minute dauerten und bei denen wenige Worte
genug waren, während derer ich kurz stehenblieb oder auch langsam weiterging, und die Worte waren gleichermaßen den zwei Pferden wie mir selbst zugedacht. Nur im Falle, dass die zwei Pferde nicht zu sehen waren,
blickte ich um mich her und ging auch einige Schritte weit zurück, um sie hinter einem Vorsprung des Stalls oder Unterstands zu entdecken oder sicher zu sein, sie nicht in einem dunklen Winkel übersehen zu haben.
Nie zeigten sie Überraschung, Zuneigung oder bekundeten irgendeine Form des Entgegenkommens, rührten sich nicht vom Fleck und warteten ab, bis ich meine
Sprüchlein hergesagt hatte. Allenfalls im ersten Moment, wenn sie mich hörten, wendeten sie den Kopf ohne Hast und Erstaunen mir zu und sahen mich an, blieben aber ansonsten ganz so stehen, wie ich sie angetroffen
hatte, zogen sich nicht zurück und näherten sich nicht, erwarteten das Weitere gefasst und wahrten, ohne irgend Scheu oder Ängstlichkeit erkennen zu lassen, den Ernst und die Würde, wie sie so vielen Tieren eigen
ist und wie sie mich noch immer mit Achtung erfüllt.
Dieses Verhalten störte mich keinesfalls, und es wäre mir eher seltsam erschienen, wären die Pferde in allzu großer Zutraulichkeit herbeigeeilt, um mich zu
begrüßen oder gar an den Klappen meiner Manteltaschen zu rupfen, ob nicht dadurch ein Stückchen Zucker, ein Apfel oder eine Karotte für sie hervorkomme. Derlei Mitbringsel hatte ich aber fast nie bei mir und
hätte es mir auch nicht erlaubt, die Pferde, die mir wohlversorgt schienen, ohne das Einverständnis ihrer Besitzer zu füttern. Ich vermutete ohnehin, dass Fremde die Pferde selten besuchten, und wusste, dass es
zumeist großer Geduld, Regelmäßigkeit und Behutsamkeit bedurfte, Tiere für sich zu gewinnen, besonders wenn man sie nicht zugleich mit etwas Fressbarem belohnen konnte und sie nur gelegentlich den Klang einer ihnen
unbekannten Stimme hörten. Dass mich die Tiere in gewissem Sinne hinnahmen, war alles, was ich an Gegenliebe erwarten durfte, und ich war mit dieser Haltung durchaus einverstanden, die keine Ansprüche stellte und
mich zu keiner weiteren Bemühung herausforderte, die ich weder erfüllen konnte noch wollte. Wir sahen einander an und nahmen uns wahr, und das war genug.
Waren die Pferdchen indessen nirgends zu sehen, wandte ich mich den gehörnten dunkelbraunen Urtieren zu, redete nun ihnen gut zu, richtete ein paar Worte
auch an die Hühner und Enten oder das bunte Hähnchen, das herumlief, manchmal krähte und bald darauf auch Antwort von einem anderen Hähnchen aus Richtung des Wohnhauses erhielt. Bereits im Weitergehen
verabschiedete ich mich wieder von den Tieren, gab ihnen allenfalls noch den Rat, schön zu fressen, oder wünschte ihnen noch einen guten Tag. Nun ja, was hätte ich ihnen sagen sollen? Sie bedurften meines
Zuspruchs und klugen Rats ja nicht und verstanden mich sicher ganz auf ihre eigene Weise. Und meine Worte begriffen sie nur in sehr allgemeiner Form, die unabhängig war von ihrem Inhalt, sondern einzig darauf
achtete, wie ich etwas sagte und welchen Tonfall meine Stimme hatte, ob ich näherkam oder mich entfernte, eine bedrohliche oder freundliche Haltung einnahm. So wäre es mir unangenehm gewesen, hätte ein Mensch
gehört, was ich den Tieren sagte, da der Sinn des Gesagten ganz nebensächlich war, und sobald ich, was zwar sehr selten geschah, aber doch gelegentlich vorkam, einen Menschen in Hörweite gewusst hätte, hätte ich
lieber geschwiegen und wäre weitergegangen.
Kapitel 5 Der Rückweg
Während ich die Landstraße zurück in Richtung Deinstedt nahm, zählte ich manchmal die Anzahl meiner Schritte zwischen den Leitpfosten und
überschlug die Länge eines jeden Schritts, nachdem ich den Abstand der Leitpfosten geschätzt hatte. Vielleicht vergaß oder verwechselte ich nur meine früheren Berechnungen, denn die Ergebnisse änderten sich im
Laufe der Zeit so sehr, dass ich von Fehlern ausgehen musste und das Gedankenspiel, das mir den Weg verkürzen half, bald wieder seinen Reiz verlor, denn mir war nicht nach Fehlersuche zumute.
Im Sommer ging ich langsamer im Schatten der Bäume und schneller in der Sonne, im Winter umgekehrt. Ich trat bis an den neben der Straße verlaufenden Graben
heran, um nach längerem Regen dem Fluss des Wassers zuzusehen oder sein Plätschern besser zu hören, wo es aus den Drainagerohren, über einen Stein oder sonst eine kleine Stufe floss. Manchmal wich ich auch nur einem
der Autos aus, die sich auf der geraden und leeren Strecke gewöhnlich in schneller Fahrt befanden. Es gab aber hier so wenig Verkehr, dass ich die Fahrzeuge leicht von vorne herankommen sah oder hinter mir hörte und
mich kurz umwandte, um zu sehen, was sich mir näherte und ob irgendeine Gefahr entstand. Nur fast lautlose Radfahrer oder Fußgänger, die plötzlich neben mir auftauchten, mich überholten und mir womöglich noch
einen Gruß zuriefen, erschreckten mich manchmal. Doch auch dieses geschah keineswegs häufig.
So war ich meist ungestört und konnte über das gerade Erlebte eine Weile nachdenken – warum das kleine Pferd diesmal wohl nicht an einem seiner
üblichen Plätze anzutreffen war; warum der Hund noch immer belle, obwohl er mich inzwischen doch kennen müsse; warum er gerade heute nicht gebellt habe; wieso die Katze nicht war, wo sie sonst immer lag, und
Ähnliches mehr. Für alles konnte es zahllose Gründe geben, und meine Launen, die ein Spiegel meiner Erfahrungen und Empfindungen und somit auch für meine Fragen zuständig waren, beeinflussten die Erklärungen ebenso
wie andere Umstände. Da ich ohnedies aber nichts daran ändern konnte, ob mir das Erlebte recht war oder nicht, ließ ich mich bald wieder ablenken von der unablässig brummenden Biogasanlage, an der oftmals
schwerbeladene Lastwagen verkehrten und meine Aufmerksamkeit stärker in Anspruch nahmen.
War ich noch immer frisch genug, ging ich nun einen recht holprigen Weg, der von der anderen Seite der Landstraße, gegenüber der Haupteinfahrt der
Gasanlage, abzweigte und am Rand eines Wäldchens entlang führte. Zwischen den Feldern fiel er etwas steiler ab und kreuzte sich auf seinem Tiefpunkt mit jenem Weg, der links von den Häusern „Jerusalems“,
wie man die kleine Siedlung auf dem Berg einmal nannte, herabkam. Solche Kreuzungen waren oft recht schlammig, da das Wasser bei längerem Regen von zwei verschiedenen Hängen zusammenströmte und sich staute, denn es
gab keinen natürlichen Abfluss; und da hier draußen an eine Kanalisation nicht zu denken war, wurde es erst nach dem Versickern und Verdunsten des Wassers wieder ganz trocken. Doch konnte ich auf diesem Weg
weiter als sonst in das umliegende Land bis hin zu jenen Baumreihen blicken, wo die Bever versteckt unter Büschen und Bäumen fließen musste, oder wo die hohen Stahltürme der Überlandleitungen den Weg des
Stromes anzeigten.
Häuser oder andere Gebäude waren nirgends mehr zu sehen, und die einzigen menschlichen Behausungen waren zwei winzige mit Dachpappe gedeckte Hüttchen auf
Rädern, welche sich die Jäger einst aus Brettern gezimmert hatten. Sie waren an Feldrändern abgestellt und ließen sich, selbst von einem Mann allein, bei Bedarf an den Ort ihrer Bestimmung ziehen. Gewöhnlich
gab es in diesen Häuschen auch nur Platz für eine einzige Person, die auf einem einfachen Querholz saß. Durch eine fensterartige Öffnung konnte der Jäger im Sitzen zielen und schießen, wobei er Schutz vor Regen,
aber auch die notwendige Deckung fand. Dies war neben dem Sitzen bereits aller Komfort des Häuschens.
Nicht fern jener Stelle, an der man ein letztes Mal nach links abbiegen und dann in fast schnurgerader Linie über den Bachweg wieder das Dorf erreichen
konnte, gab es ein kleines verschnittenes Kiefernwäldchen, dessen Umrisse sich gut geeignet hätten, den Satz des Pythagoras zu erklären. An seinem Rand war etwa ein halbes Dutzend ausgedienter Telegrafen- oder
Strommasten abgelegt, denn der Einsatz von Erdkabeln hatte vor mehreren Jahren die Hochleitungen überflüssig gemacht. Man hatte damals vielleicht keinen anderen Platz gefunden, oder die noch mit Carbolineum
behandelten Masten waren vergessen und der Verwitterung preisgegeben worden. Ich setzte mich einige Male auf sie, um hier auszuruhen.
Als ich eines Tages wieder einmal diesen Weg nahm, waren die Masten mittlerweile in armlange Teile zersägt worden. Doch hatte das Zersägen offenbar nicht
dem Zweck gedient, den ohnehin kaum einmal vorüberkommenden Wanderern ihre Sitzgelegenheit zu nehmen, sondern eher sollte diese Maßnahme die langsam eintretende Zersetzung des Holzes beschleunigen. Bald nämlich
sah ich einzelne große Waldameisen, die auf den Holzteilen hin- und herliefen und sich an ihnen zu schaffen machten, während das nächste Mal bereits eine große Schar von ihnen einen einstigen
Stamm bevölkerte und wahrscheinlich Stückchen für Stückchen des morsch gewordenen Holzes abbiß und davontrug, um es neuen Aufgaben zuzuführen. Mancher Abschnitt der Hölzer, deren Zusammengehörigkeit über die Jahre
verlorenging, hatte sich nicht zuletzt aufgrund dieser Zerlegung gespalten, so dass das Innere der Stämme bloßlag. Den Ameisen erleichterte dies die Arbeit, und wie eine Vielzahl aneinandergereihter rechteckiger
Kästchen konnte man die Schichten des vom Wetter gebräunten Holzes sehen. Muster und Linien kamen zum Vorschein, wie man sie sonst nur selten erblickte, und es war nur eine Frage der Zeit, bis alles Holz sich
aufgelöst und im Boden verteilt hatte und die einstigen Masten schließlich ganz unsichtbar geworden waren.
hauptsächlich Februar 2009 bis Mai 2014
Erste Eingabe ins Internet: 2013
Letzte Ãnderung: Dienstag, 11. Oktober 2016
© 2013–2016 by Herbert Henck
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