Die Macht des Stärkeren
von
Herbert Henck
Vor einiger Zeit verbrachte ich mehrere Wochen in einer norddeutschen Klinik. Hier nahmen die Patienten ihre Mahlzeiten gewöhnlich in großen, parterre
gelegenen Speisesälen ein, an Tischen zu jeweils vier Personen, getrennt nach Männern und Frauen. Dank auffälliger Nummern und Namensschildchen hatten alle ihren festen Platz, und so konnte die Bedienung, die
mittags die Teller mit dem Essen austeilte, jedem das am Vortag Gewählte bringen. Selten saß man allein am Tisch, doch blieben zuweilen ein oder zwei Plätze leer. Natürlich kam man sich bei den Mahlzeiten
näher, sprach einmal über die Art der Behandlung, ein andermal über Ärzte, Therapeuten und Schwestern oder erzählte, was einem sonst am Herzen lag, bedrückte oder erfreute, oder schwieg und hörte den andern
nur zu.
Nachdem der Platz zu meiner Rechten schon längere Zeit verwaist war, setzte sich eines Tages ein jüngerer Mann neben mich. Formlos stellten wir einander
vor und kamen alsbald ins Gespräch. Wie es gewöhnlich geschieht, knüpften wir bei den Gemeinsamkeiten an – warum man hier sei und was während des Aufenthalts getan werde, um die eingebüßte Gesundheit
wiederherzustellen. Mein Tischnachbar hatte in einer Autowerkstatt einen Arbeitsunfall erlitten, kam aber jetzt, bei fortschreitender Heilung, nur noch zur Nachbehandlung ins Haus. Im Anschluss an die
verordneten Anwendungen und die Mittagsmahlzeit durfte er die Klinik bereits wenige Stunden später wieder verlassen. Von ihm stammt die folgende Geschichte, die ihm einige Wochen zuvor widerfahren war.
Unmittelbar nach seinem Unfall hatte man den Arbeiter in das Krankenhaus gebracht, wo er ärztlich versorgt wurde. Zur weiteren Abklärung seiner
Beschwerden wollte man ihn aber lieber dabehalten und nicht erst nach Hause zurückkehren lassen, auch wenn sein Fall nicht allzu ernst schien. So sah er sich gezwungen, seine Frau anzurufen, um ihr das Vorgefallene
zu berichten und sie um all jene Dinge zu bitten, deren man zur Übernachtung in einem Krankenhaus bedarf. Allein, er fand nirgends ein Telefon, diesen Anruf zu tätigen.
Da erinnerte er sich, bei seiner Ankunft eine Telefonzelle in der Straße vor der Notaufnahme gesehen zu haben, und eilig machte er sich auf den Weg
dorthin. Doch andere Patienten hatten offenbar denselben Wunsch zu telefonieren, und so traf er auf eine ziemlich lange Schlange Wartender. Unschlüssig ging er an der Menschenreihe entlang, sah wiederholt auf seine
Uhr und blickte sich ratlos um, denn die Zeit wurde knapp, und man begann sich zu Hause über sein Ausbleiben vielleicht schon zu wundern, während in der Klinik eine weitere Untersuchung anstand.
Da trat ein sehr großer und sehr muskulöser Mann mit nackten, von oben bis unten tätowierten Armen auf ihn zu und fragte barsch, was er wolle. Mit
wenigen Worten erklärte der Arbeiter, warum er hier sei und warum er dringend zu Hause anrufen müsse. Der riesige Mann verzog keine Miene, sagte nur „Komm mit!“, machte mit der Hand ein Zeichen,
ihm zu folgen, und begab sich an den Anfang der Menschenschlange vor dem Telefonhäuschen. Hier breitete er seine mächtigen Arme weit aus und drängte die wartende Menge mit sanfter Gewalt zurück, bis vor dem
Häuschen ein freier Platz entstanden war. Er zeigte mit dem Finger darauf und befahl: „Da stellst du dich jetzt hin!“ Niemand wagte Einspruch, denn die Kräfte waren sichtlich ungleich verteilt. Als der
Arbeiter auf dem angewiesenen Platz stand, wandte sich sein Helfer zur Tür des Häuschens, klopfte an die Scheibe und bedeutete dem gerade Telefonierenden mit winkendem Zeigefinger, dass seine Zeit jetzt um sei und
er aufzulegen und herauszukommen habe. Auch dieses geschah fast unverzüglich. Die Zelle wurde frei, und der Arbeiter kam, so unangenehm ihm das dreiste Vorgehen auch war, unverhofft schnell zu seinem Telefonat.
Der Arbeiter musste noch etwas länger in dem Krankenhaus bleiben, wo er aber bald erfuhr, dass sein tätowierter Helfer ebenfalls Patient war und hier
sogar eine gewisse Bekanntheit erlangt hatte. Denn es handelte sich nicht um einen der üblichen Fälle, sondern um einen Patienten aus der psychiatrischen Abteilung des Hauses, der hin und wieder, im Bewusstsein
der ihm innewohnenden Kräfte, das Bedürfnis hatte, nicht aus der Übung zu kommen und sein Durchsetzungsvermögen auf die Probe zu stellen. Stark war er gewiss, gefährlich wohl kaum.
hauptsächlich September 2007
Erste Eingabe ins Internet: Dezember 2014
Letzte Änderung: Montag, 25. April 2016
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