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Klavierwerke von George Antheil und Conlon Nancarrow
von
Herbert Henck
Nachstehender Text wurde für das Booklet folgender CD Piano Music geschrieben: Georges Antheil, Conlon Nancarrow Herbert Henck, Piano (im März 2001 bei ECM erschienen als ECM NEW SERIES 1726). Der Text wurde leicht überarbeitet und ergänzt. Eingabe ins Internet mit freundlicher Genehmigung durch ECM, München.
George Antheil
Als George Antheil im Frühjahr 1922, keine zweiundzwanzig Jahre alt, aus den USA nach Europa kam, um hier für nicht geringe Aufregung in den Konzertsälen zu sorgen, war der eigentliche
Grund seiner Reise, will man ihm glauben, erst in zweiter Linie musikalischer Natur. Der Pianist und angehende Komponist hatte sich im Herbst des Vorjahres in ein Mädchen namens Anne Williams verliebt, deren Eltern
sich den Heiratsabsichten des Paares jedoch energisch widersetzten. Vorsichtshalber nahm Mutter Williams ihre blutjunge Tochter mit auf eine Europa-Reise; Antheil indes sann auf Gelegenheiten, der Geliebten
nachzureisen und sie ausfindig zu machen.
Zwar war der Wunsch nach Heirat restlos verflogen, seit Anne verschwunden war, ohne ihm ein Wort zu sagen, doch wollte Antheil ihr in einer melodramatisch-stummfilmartigen Szene noch
einmal in die Augen blicken und ihr schweigend Vorwürfe machen, um sie dann, sich traurig abwendend, für immer zu verlassen. Sie würde verstehen. So stellte er es sich jedenfalls vor, oder so wenigstens
beschrieb es der Komponist in seiner Autobiographie Bad Boy of Music.
Dieses blendend geschriebene Buch, das bald nach seinem Erscheinen (1945) ein Bestseller wurde, bietet eine so spannende wie komische, oft amüsant-indiskrete und berührende,
gelegentlich bewegende, doch nicht immer ganz wahre Lektüre und gehört wohl zu den ungewöhnlichsten Lebenserinnerungen, die ein Komponist des zwanzigsten Jahrhunderts hinterließ. Dass sie 1960 als Enfant terrible der Musik in deutscher
Übersetzung herauskamen und im Jahr 2000 unter dem englischen Originaltitel neu aufgelegt wurden, unterstreicht die Popularität des Buches, ändert freilich nichts daran, dass historische Zuverlässigkeit nicht
zu seinen Stärken gehört.
Wie auch immer. Da es an Geld für eine Schiffspassage mangelte und er sich nicht zum Kochen, Kellnern oder zum blinden Passagier berufen fühlte, entwarf Antheil einen nicht minder
filmreifen Plan. Er begann wie besessen Klavier zu üben und seine schon vorhandene solide Ausbildung auf diesem Instrument in kürzester Zeit zu vervollständigen, um schließlich über eine Tournee als Konzertpianist
nach Europa zu gelangen. Einen Monat lang, berichtet Antheil, übte er, man stelle sich vor, »sechzehn bis zwanzig Stunden«. Beiderseits von seinem Klavierhocker postierte er große Goldfischgläser, in die er seine
wunden Hände zur Erfrischung tunkte. Solchermaßen gestählt präsentierte er sich einem der angesehensten New Yorker Impresarios, der ihn tatsächlich mit sich nach Europa nahm und ihm einen ersten Auftritt in London
verschaffte.
Damit begann eine Karriere, die Antheil immer weiter vom Konzertpianisten weg und hin zur Komposition führte. Er blieb bis 1933 in Europa und wohnte vor allem in Berlin, Paris und Wien.
Schnell erfüllte sich sein Wunsch, als ultramoderner Komponist »berühmt und berüchtigt« zu werden, denn viele seiner Auftritte waren von tumultartigen Szenen begleitet – was Antheil bewog, bei seinen Konzerten
stets eine Pistole unter dem Frack tragen, um sich notfalls zu verteidigen.
Als er am 4. Oktober 1923 im Théâtre des Champs Elysées zur Eröffnung des Ballet suédois – ein hochkarätiges Ereignis der Pariser Gesellschaft – seine Airplane Sonata,
die Sonata Sauvage und die Mechanisms vortrug, kam es zu einem Skandal, wie ihn Paris seit der Uraufführung von Strawinskys Sacre du Printemps nicht mehr erlebt hatte. Es wurde geschrieen, gepfiffen und gejohlt, man ohrfeigte sich, riss Stühle aus ihrer Halterung. Polizei schritt ein und verhaftete. Das Haus tobte. Doch Satie, eine der Schlüsselfiguren der Pariser Avantgarde, stellte sich demonstrativ auf Antheils Seite, applaudierte aus seiner Loge unnachgiebig und rief in den Trubel: »Quel précision! Quel précision! Bravo! Bravo!« Die Stimmung schlug um. Am nächsten Morgen berichteten die Zeitungen auf ihren Titelseiten über das Ereignis – Paris hatte einen neuen Liebling.
Die Frage, was genau das Publikum damals so stark erregte, ist heute nicht ganz einfach zu beantworten, denn der Gebrauch vieler musikalischer Mittel, die seinerzeit noch frisch und
provozierend wirkten, gingen bald ein in die Sprache der zeitgenössischen Musik und wurden selbstverständlich. Vermutlich hielt aber Hans Heinz Stuckenschmidt einiges Wesentliche von Antheils Auftreten fest, als er
in seiner Autobiographie Zum Hören geboren über seine ersten Eindrücke in Berlin (1923) schrieb:
»So hatte ich noch nie Klavierspielen gehört. Es war eine Synthese von Raserei und Präzision, die über alle konventionelle Virtuosität hinausging. Eine Maschine schien über die
Klaviatur zu fahren. Rhythmen von unglaublicher Schwierigkeit und Kompliziertheit wurden vermählt. Dynamik und Zeitmaße lebten in Extremen. Der Erfolg war superlativisch. Antheil, ein kleiner, drahtiger Mann in
salopp sitzendem Frack, verbeugte sich etwas ungelenk. Nachher suchten wir ihn im Künstlerzimmer auf. Ich sprach englisch mit ihm, gratulierte und äußerte meine Bewunderung. Er fragte, ob wir uns nicht sehen
könnten, und gab mir seine Adresse. Ich sagte mich für den nächsten Nachmittag zum Kaffee an. Er hatte eine möblierte Wohnung in der Bülowstraße, nahe dem Nollendorfplatz. Zwei Flügel standen da. An der Wand hing
ein Picasso. (…) Er war damals ein hemmungsloser Bewunderer Strawinskys und spielte mir die drei Sätze der Petruschka Suite mit äußerster Virtuosität vor. Mit Schönberg konnte er nicht viel anfangen. Solche Musik war ihm nicht rhythmisch genug. (…) Als ich abends fortging, waren wir Freunde.«
Immer wieder fühlte sich Antheil von Maschinen angezogen, und in mehreren Werken thematisierte er dieses moderne, zukunftsträchtige Erlebnis. »Wir jungen Menschen sehen nicht die
Schönheit in der Welt, die wir zum Teil bereits ererbt haben. Wir sehen grosse Schönheit in der Eleganz der Linie eines Automobils, und die gut entworfene Maschine reisst uns zur höchsten Bewunderung hin«,
schrieb er 1927. Nun gehörte das Thema »Musik und Maschine« zwar ebenso zum festen Bestand der zwanziger Jahre wie die verschiedenen Zwölftonlehren, die Jugendmusikbewegung, der Neoklassizismus oder die
politische propagierende Musik; doch war Antheil jener Komponist, der vorerst am radikalsten war und alle anderen übertrumpfte.
Dabei verwundert nicht, dass er sich als leidenschaftlicher Pianist insbesondere für eine Maschine, eine Musikmaschine, begeisterte, nämlich das Pianola, das
elektrische Klavier (Player Piano). Dieses diente vorrangig der musikalischen Unterhaltung, doch erkannten einige Komponisten die neuen künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten des präzisen und äußerst leistungsfähigen
Automaten, und so schrieben etwa Strawinsky, Malipiero, Toch, Hindemith, Hans Haas oder Casella Originalwerke für Pianola. Erst Conlon Nancarrow setzte dieses Genre, das durch Rundfunk und Schallplatte und
das Verschwinden der Instrumente schnell wieder an Bedeutung verlor, mit seinen Studies for Player Piano Ende der vierziger Jahre fort.
Antheil indes komponierte mit seinem Ballet mécanique ein Werk, in dem neben Schlagzeugen, Sirenen, elektrischen Klingeln und Flugzeugpropellern nicht weniger als sechzehn Pianolas zum Einsatz kommen sollten, eine Forderung, die seinerzeit an der Synchronisation der Klaviere scheiterte und die Reduktion auf zwei Klaviere und später nur eines erzwang. Erst in unseren Tagen hat man mit Hilfe der Computersteuerung Wege gefunden, das ursprüngliche Konzept zu verwirklichen.
Als das Ballet mécanique, das vielen als Hauptwerk Antheils gilt, 1926 in Paris uraufgeführt wurde, war seine Aufnahme durchaus wohlwollend, denn es setzte die bereits
bekannte »mechanische« Musik Antheils konsequent fort. Als es jedoch im folgenden Jahr in der New Yorker Carnegie Hall unter recht abenteuerlichen Bedingungen wiederholt wurde, fiel es mit Pauken und Trompeten durch. Die Presse zog alles ins Lächerliche und verhöhnte den Komponisten, der es fortan schwer hatte, in Amerika noch ernst genommen zu werden.
Antheil wohnte damals schon mehrere Jahre in Paris und hatte eine Wohnung über der legendären Buchhandlung Shakespeare et Co. im Quartier latin in der Rue
de l’Odéon 12, und Sylvia Beach, die Verlegerin von Joyces Ulysses, war seine Vermieterin. Er verkehrte mit einer Vielzahl oft weltberühmter Literaten, Musiker und Maler – eigentlich
kannte er jeden von Rang und Namen –, und er versichert, dass mindestens an einem Nachmittag James Joyce, T. S. Eliot, Ford Maddox Ford, Ernest Hemingway, Wyndham Lewis und Ezra Pound gleichzeitig bei ihm zum
Tee erschienen waren. Pound versuchte ihn durch ein kleines Buch zu fördern, das er Antheil and the Treatise of Harmony (»Antheil und die Behandlung der Harmonik«) nannte.
Neben der Welt der Maschinen war es vor allem der Jazz, der in Antheils Musik früh Einfluss gewann. Natürlich war er nicht der erste Komponist, Jazz und Kunstmusik zu verbinden, denn
auch diese Synthese gehörte in den zwanziger Jahren zum festen Bestand der Ästhetik. Doch hatte Antheil zu dieser Musik seines Heimatlandes eine besondere Liebe entwickelt, aus der ein sicheres Gespür für ihre
harmonischen und rhythmischen Schönheiten erwuchs; und so zählen seine Jazz Symphony und die kurze Jazz Sonata zu den gelungensten Beispielen dieser Stilkreuzung. Dass auch der Jazz zugleich eine Verbindung mit der Maschinenmusik eingehen konnte, kommt in der Spielanweisung der Jazz Sonata zum Ausdruck, wo es unter anderem heißt: »wie ein elektrisches Klavier«.
Weitere Beispiele für Antheils Anlehnung an den Jazz oder an die Unterhaltungsmusik sind etwa seine Sonatina für Radio, die er Anfang Januar 1929 im Berliner Rundfunk selbst
spielte, oder der (Little) Shimmy, eine Hommage en miniature an jenen Jazz-Tanz, der nach dem Ersten Weltkrieg in Mode gekommen war. Das Stück datiert vom 3. Oktober 1923 und ist Böski Markus,
Antheils damaliger Freundin und späterer Frau, zugeeignet. Die Widmung lautet in verliebt holprigem Deutsch, durch das sich der Amerikaner in Paris mit seiner Ungarin verständigte: »für mein nur Einziger Böskè«.
Antheil kehrte 1933 für immer in die USA zurück. Sein Stern war in Paris rasch wieder gesunken. Nach der Sensation seiner Klavierdarbietungen und dem Erfolg des Ballet mécanique empfand
man seine neuen Werke – ein Klavierkonzert und eine Symphonie – als zu unspektakulär, als allzu abhängig von Strawinskys Neoklassizismus. Die Snobs waren pikiert; man hatte wohl auf das falsche
Pferd gesetzt.
Neuen Auftrieb gab Antheil die Oper Transatlantic, die 1930 in Frankfurt uraufgeführt wurde und welche die mächtige Wiener Universal-Edition unter Vertrag nahm. Doch bald
wurden die politischen Verhältnisse in Deutschland immer bedrohlicher. Nach Hitlers »Machtergreifung« war Antheils Musik doppelt unerwünscht, denn er war »Musikbolschewist« und Jude in einem, und sowohl
die Düsseldorfer Ausstellung Entartete Musik (1938) wie das Lexikon der Juden in der Musik (1940) brandmarkten ihn und seine Kunst.
In den USA gelang es Antheil nie, mit neuen Werken an seine europäischen Erfolge anzuknüpfen. Er verdiente jetzt seinen Lebensunterhalt vorwiegend als Filmkomponist in
Hollywood, war Kolumnist der Zeitschrift Esquire, veröffentlichte aber auch 1940 anonym ein Buch mit dem Titel The Shape of the War to Come, »Die Gestalt des kommenden Krieges«, das hellsichtig
wesentliche Entwicklungen des Zweiten Weltkriegs vorausnahm.
Ausgiebig beschäftigte er sich mit Fragen der Endokrinologie (der Lehre von den endokrinen Drüsen), worüber er ebenfalls Artikel und schließlich ein Buch verfasste. Diese Expertenschaft
bewog den in seiner Nachbarschaft lebenden Filmstar Hedy Lamarr (»Die schönste Frau der Welt«), Antheil zu konsultieren, als sie nach Möglichkeiten suchte, ihre Brüste zu vergrößern. (So jedenfalls wieder
Antheils Autobiographie, in der dieser Episode ein ganzes Kapitel gewidmet ist.)
Hedy Lamarr, als Hedwig Eva Maria Kiesler in Wien geboren und durch den erstmals Nacktszenen zeigenden Film Ekstase (1933) schnell zu Weltruhm gelangt, hatte sich des längeren mit Erfindungen im Bereich der Radiowellen und Nachrichtentechnik befasst, wozu sie durch Gespräche ihres ersten Mannes, des Rüstungsmagnaten Fritz Mandl, angeregt worden war. Sie entwarf Pläne, im Kampf gegen die Naziherrschaft funkgesteuerte Torpedos einzusetzen, und entwickelte nun gemeinsam mit Antheil eine neuartige Methode, gesendete Informationen zu verschlüsseln.
Das als »Geheimes Kommunikationssystem« bezeichnete Verfahren, auf das 1942 ein Patent unter Lamarrs und Antheils Namen registriert wurde, bestand darin, ein Signal ständig seine
Frequenz wechseln zu lassen und es damit vor fremdem Zugriff abzuschirmen. (Lamarr soll der Einfall bei einer Unterhaltung mit Antheil gekommen sein, während dieser Klavier spielte und unentwegt von einer in die
andere Tonart sprang.)
Antheils Beitrag bestand darin, die erforderliche Synchronisation der Signale zwischen Sender und Empfänger zu bewerkstelligen. Hierzu verwendete er Lochstreifen, wie er sie zur
Synchronisation der mechanischen Klaviere in seinem Ballet mécanique benutzt hatte. Das gesendete Signal sprang zwischen 88 Frequenzen, was den 88 Tönen des Klaviers entsprach, doch nur wenn Sender
und Empfänger über identische Lochstreifen verfügten, war eine Übertragung möglich; ansonsten ließen sich nur Bruchstücke der Nachricht abfangen.
Erst in unseren Tagen hat sich durch Satelliten-Technik, Modems und die Entwicklung des Mobilfunks die volle Bedeutung dieser Erfindung entfaltet. 1997 wurde Lamarr und Antheil der
»Pionierpreis« der kalifornischen Electronic Frontier Foundation zuerkannt. Beide Erfinder sahen freilich nie einen Pfennig aus der Verwertung ihres Patents, das nach siebzehn Jahren abgelaufen und nicht
erneuert worden war. Antheil starb 1959 im Alter von 59 Jahren, Hedy Lamarr 86-jährig im Januar 2000.
Conlon Nancarrow
Conlon Nancarrow (1912–1997) wurde einer größeren Öffentlichkeit erst in den achtziger Jahren bekannt, nachdem das kalifornische Label 1750 Arch Records vier Schallplatten mit dem Großteil seiner Studies for Player Piano auf den Markt gebracht hatte (1977–84). Die Reaktionen auf diese Veröffentlichungen waren außerordentlich. Die Medien griffen die Entdeckung schnell auf, denn diese Musik war anders als alle sonstige neue Musik. Sekunden genügten, ihren Verfasser zu erkennen. Es war Musik, die sofort für sich einnahm durch ihren starken rhythmischen Impuls, ihren Bezug zum Jazz und zur spanischen Folklore, aber auch durch Klarheit des Aufbaus und eine Formstrenge, die besonders bei den zahlreichen kanonischen Stimmführungen Bachs Schule verriet.
Darüber hinaus besaßen diese Stücke, zumindest die aufregendsten unter ihnen, eine ganze Portion von Mut zum Extrem, ja zur Übersteigerung und zum Aberwitz, und nicht selten stellte sich
die Frage nach den Grenzen des Fassungsvermögens eines Hörers ebenso ernstlich wie die nach den Leistungsgrenzen der hier wirkenden Klaviermaschine. Einige wenige Studien hätten sich zwar ansatzweise auch
von einem oder mehreren Pianisten spielen lassen; andere dagegen türmten bedingungslos Schicht auf Schicht, jede in eigenem Tempo und eigener Tonart, und beschleunigten sich gelegentlich in einem Maße, dass die
rasenden Töne sich zu Klangwolken ballten und die Maschine kurz vor ihrer Detonation zu stehen schien. Jeder Gedanke an eine manuelle Ausführung wäre absurd gewesen.
Bemerkenswert war, dass all diese Musik von einem Instrument erzeugt wurde, dessen Uhr man längst abgelaufen glaubte. Suchte man nach Vorgängern, stieß man allenfalls auf George Antheil,
der in den zwanziger Jahren das elektrische Klavier mehr als andere zu eigenständiger Aussage genutzt hatte und der Nancarrow durch seine Bewunderung Strawinskys und seine Liebe zum Jazz ästhetisch noch am nächsten
stand. Aber wirklich Vergleichbares gab es nicht in der Vergangenheit.
Dass eine solche Musik jahrzehntelang fast unbemerkt in Mexico City entstanden und selbst dort so gut wie niemandem bekannt war, war ebenso erstaunlich wie beschämend. Dies änderte
sich nun schlagartig. Die Einladungen und Ehrungen des Komponisten rissen nicht ab. Der inzwischen Siebzigjährige erhielt den »Genie-Preis« der McArthur Foundation in Chicago, György Ligeti pries
seine Musik als die »größte Entdeckung seit Ives und Webern«. Nancarrow, ein zwar nicht bescheidener, aber doch zurückhaltender Mann mit etwas galligem Humor, begann wieder zu reisen, zunächst in sein
Geburtsland, die USA (die ihn wegen seiner Teilnahme am spanischen Bürgerkrieg zum Exil genötigt hatten), wenig später auch nach Europa.
Bevor Nancarrow sich fast ausschließlich dem Player Piano zuwandte und seinen gewaltigen Zyklus der über fünfzig Studies komponierte, schrieb er mehrere Solo- und Ensemblewerke für
konventionell zu spielende Instrumente, darunter das Prelude und den Blues (seine ersten, 1935 gedruckten Stücke) oder einige Jahre später die Three 2-part Studies (Drei 2-stimmige Studien).
Gerade die hohen rhythmischen Ansprüche dieser frühen Arbeiten, die sich zum Verdruss des Komponisten von den Interpreten kaum mehr bewältigen ließen, waren für Nancarrow indes der Anlass, ein Medium zu suchen, das
seine Vorstellungen zuverlässiger umsetzen konnte.
Durch einen Hinweis in Henry Cowells Buch New Musical Resources (1930) stieß er auf das Player Piano, das rhythmische Schichtungen in fast jeder erdenklichen Komplexität und
Geschwindigkeit erlaubte und somit wie geschaffen war für seine ambitionierten Ideen zur Zeitgestaltung. Der einzige Nachteil bestand darin, dass die Partituren in oft monatelanger Fleißarbeit Note für Note in einen
Papierstreifen zu stanzen waren, bevor sie erklingen konnten.
Noch zu seinen Lebzeiten ließen sich viele jüngere Komponisten von Nancarrow inspirieren und schrieben eigene Werke für das Pianola oder seine elektronischen Nachfolger, so dass die
Tradition der Komposition für Selbstspielklaviere mit Nancarrow heute weniger zu enden als eigentlich erst zu beginnen scheint.
(Deinstedt, September-Oktober 2000)
Quellen (Auswahl)
G. Antheil, Bad Boy of Music, New York (bzw. London) 1945, 1947, 1949, 1981; dt. Übersetzung als Enfant terrible der Musik, München 1960; dt. Neuausgabe als Bad Boy of Music,
Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 2000
H. H. Stuckenschmidt, Neue Musik, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1981
H. H. Stuckenschmidt, Zum Hören geboren, München: Piper, 1979
K. Gann, The Music of Conlon Nancarrow, Cambridge: Cambridge University Press, 1995
J. Hocker, Begegnungen mit Conlon Nancarrow, Mainz: Schott Musik International, 2002 (mit CD)
CD-Veröffentlichung und Bestellung bei ECM (Details)
Erste Eingabe ins Internet: Mittwoch, 23. Januar 2002
Letzte Änderung: Donnerstag, 14. April 2016
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