Ein Leserbrief zu Hans Otte

 

Ein unveröffentlichter Leserbrief
an die Badische Zeitung in Freiburg im Breisgau

 

von

Herbert Henck

 

Der folgende Leserbrief ist eine Stellungnahme zu dem Artikel Das Rohmaterial aus dem Tagebuch. Römerbad-Musiktage in Badenweiler: Herbert Henck spielt Hans Ottes repetierendes „Buch der Klänge“ von Elisabeth Schwind, der in der Badischen Zeitung am 17. März 2001 erschienen war. Die Badische Zeitung lehnte mit Schreiben vom 21. März 2001 (E-Mail) eine Publikation meines Briefes ab mit dem Hinweis auf die »große Zahl täglicher Zuschriften«, die es ihr nicht möglich mache, alle Leserbriefe zu veröffentlichen. Eine andere Antwort erfolgte nicht.

 

Deinstedt, den 17. März 2001


Sehr geehrte Frau Schwind,

im Anschluss an die Lektüre des oben genannten Artikels möchte ich als (Mit)betroffener einige Gedanken äußern, um wenigstens Ihre gröbsten Fehlinformationen und Verzerrungen zu berichtigen oder zurechtzurücken. Bei Hans Ottes Das Buch der Klänge handelt es sich nämlich um nichts weniger als ein »Tagebuch«, das dem Hörer ungebrochen zur Lektüre anvertraut wird, und schon gar nicht um die Präsentation von »ungeformtem Rohmaterial« aus demselben, wie Sie dies unterstellen. Otte notierte in den vier Entstehungsjahren der Komposition (1979–1982) ständig Klänge und Gestalten, die er quasi improvisatorisch auf dem Klavier entdeckte und entwickelte. Auf diesem Wege trug er über 400 Blätter Notiertes zusammen, doch bestand seine Hauptaufgabe nach eigenen Aussagen darin, dieses »Rohmaterial« – nennen wir es hier ruhig noch so – zu sichten, zu verdichten und in musikalisch und dramaturgisch sinnvolle Zusammenhänge zu bringen, kurz: es zu komponieren. Dabei entstanden komplexe, vielgestaltige Formen und ein sorgfältig bedachter, ausgewogener Ablauf von Musik, der die Spannung des über siebzigminütigen Werkes durchaus zu tragen in der Lage ist und dem, nach meinem Ermessen und Empfinden, die Mehrheit der über 200 Hörer im »Hotel Römerbad« in Badenweiler auch zu folgen bereit und imstande war. Die Hintergründe des inzwischen weltweit auf Tonträger und in gedruckter Form verbreiteten Werkes, eines »Klassikers« gewissermaßen, sind übrigens bequem nachlesbar, und Sie hätten sich leicht kundig machen können.

Dass Ihnen persönlich die Musik Otte nichts sagt, sei Ihnen unbenommen; aber dass die Konzentration, die anhaltend, ja in steigendem Maße spürbare Bereitschaft zum Zuhören und Mitgehen und schließlich auch die im Beifall sich äußernde Zustimmung der Hörerschaft in Badenweiler Ihren eigenen Eindrücken zuwiderlief, hätten Sie Ihren Lesern nicht vorenthalten sollen. Damit relativiert sich zugleich Ihre Sorge um die Kultur (»eine der bedrückendsten Fragen ...«), die ich angesichts Ihrer Unlust, historische Zusammenhänge wahrzunehmen, als reine Koketterie betrachten muss. Wenn hier überhaupt etwas bedrückend sein sollte, dann Ihre Form der Öffentlichkeitsarbeit und Überheblichkeit, Ihr abfälliger, gelegentlich gar gehässiger Ton gegenüber einem Künstler, dessen Mut, Suche nach Wahrhaftigkeit und Bedürfnis nach Schönheit für mich wenigstens außer Frage stehen – nicht auf Grund der Kenntnis eines einzelnen Werkes und einer einzigen Aufführung, sondern auf Grund der Kenntnis seines reichen, bereichernden Lebenswerkes. Was wissen Sie von Hans Otte, dessen Klänge sich Ihrem Eindruck zufolge an diesem Abend »so breit gemacht« haben – wo doch der Zusammenhang von Klang, Raum, Instrument und Zeit das eigentliche Thema dieser Musik ist –?

Was Sie als »ästhetisch fragwürdige Projekte« herunterzuspielen versuchen, ist nicht mehr und nicht weniger als das Salz in der Suppe. Wenn Ihnen danach zumute ist, nur bekannte Namen und bereits Akklamiertes gutzuheißen, Sie gerne im Gleichschritt hinter einem Leithammel hermarschieren und Ihnen salzarme Kost besser mundet, sei Ihnen das selbstverständlich ebenfalls zugestanden; gar keine Frage. Es ist Ihre Privatsache, Ihr eigener Geschmack. Undiskutabel und weitaus fragwürdiger finde ich es aber, wenn sich jemand, wie in Ihrem Fall, öffentlich zum Vorsprecher und Vorbeter dessen aufschwingt, was Kultur sei oder vermeintlich zu sein habe, seinen Lesern ein Potpourri aus nachweislicher Uninformiertheit und Vergröberung zumutet und die Grenzen zwischen persönlichem Gefallen und Verallgemeinerung schamlos verwischt.

Ihr
Herbert Henck

 

 

Erste Eingabe ins Internet:  Mittwoch,  21. März 2001
Letzte Änderung:  Montag,  25. April  2016

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