Ein einfaches Verfahren zur Abbildung komplexer rhythmischer Proportionen
von
Herbert Henck
Eines der beschwerlichsten Probleme bei der Einstudierung zeitgenössischer Musik ist immer wieder die Bewältigung unübersichtlicher Rhythmen, die ab
einem bestimmten Schwierigkeitsgrad aufwändige Vorarbeiten erfordern. Noch ehe das eigentliche Üben am Instrument beginnen und ein Ton erklingen kann, beansprucht die Einrichung des Textes mitunter viele Stunden,
und man begibt sich besser gleich zu seinem Schreibtisch, als dass man, krumm über ein Notenpult gebeugt, das Unvermeidliche mit Bleistift, Deckweiß und Radiergummi, Lineal, Zeichendreieck
und Taschenrechner angeht. Zum einen muss ein Interpret, der eine notierte Rhythmik in zeitliche Verhältnisse übersetzen möchte, sich über die Dauer eines jeden Notenwertes zumindest theoretisch im Klaren sein und
sie intellektuell durchschauen; zum andern dienen solche Prozeduren auch der Überprüfung der Korrektheit der Partituren, denn es ist keineswegs sicher und selbstverständlich, dass Komponisten, Notensetzer oder
Kopisten alle Notenwerte maßstäblich richtig platziert haben.
Nun gibt es eine ganze Reihe von Hilfsmitteln, die ich vor Jahren schon einmal in der „Schweizerischen Musikzeitung“ zusammengefasst habe (Zur
Berechnung und Darstellung irrationaler Zeitwerte, Jg. 1980, Nr. 1 und 2, S. 26–34 und 89–97). Zu den dort mitgeteilten Verfahren käme jetzt ein sehr einfaches hinzu, das zwar der
Unterstützung des Computers bedarf, das aber jedem, der mit dem verbreiteten Textverarbeitungs-Programm „Word“ von Microsoft auch nur ansatzweise vertraut ist, schnell einleuchten und benutzbar sein
wird. (Vergleichbare Programme anderer Hersteller dürften ähnliche Funktionen haben.) Unter den mir bekannten Verfahren ist es das einzige, welches sich zur ebenso präzisen wie raschen Darstellung auch hoch
komplexer Rhythmen eignet und das gleichwohl auf mathematische Vorkenntnisse verzichtet, da alles auf der grafischen Darstellung der Rhythmen beruht. Dazu wird vor allem auf der Tabellenfunktion des genannten
Programms aufgebaut, die es erlaubt, Tabellenzellen vielfältig zu unterteilen oder zu verbinden.
Zu Beginn generiert man stets eine einzelne Zelle als Einheit – gewissermaßen als Takt oder als übergeordneten Notenwert – und unterteilt sie dann in gleich große
Einzelzellen, die den untergeordneten Notenwerten entsprechen. Ein Beispiel mag den Vorgang verdeutlichen: Man geht von einer beliebigen langgestreckten Zelle aus, die man am leichtesten mit dem Befehl „Tabelle
zeichnen“, dem obersten Befehl im Menü „Tabelle“, erzeugt. Die genauen Abmessungen spielen dabei keine Rolle, denn es geht ja lediglich um die Sichtbarmachung und die Anschaulichkeit der
Proportionen.
Abb. 1
Diese Zelle lässt sich nun in 2 bis 63 gleich große Abschnitte (Spalten) proportionieren – „Word“ legt den Wert 63 als Obergrenze fest –, indem man mit der
rechten Maustaste ins Innere des Rahmens klickt und aus dem sogenannten Kontextmenü den Befehl „Zellen teilen“ wählt. In dem erscheinenden Dialogfeld gibt
man als „Spaltenanzahl einen Wert von 2 bis 63 ein und bestätigt mit OK. Bei 2 wäre das Ergebnis:
Abb. 2
Bei einer Spaltenanzahl von 13 erhält man:
Abb. 3
Oder bei 25:
Abb. 4
Wurden zu viele Unterteilungen einer zu klein gewählten Tabellenzelle gewählt, vergrößert „Word“ die Zelle selbständig. Auch trägt man besser keine Nummerierung
in die Zellen ein (wie dies im hier Folgenden geschieht), da dies ebenfalls eine automatische Größenanpassung der Zellen bewirken und in der Abbildung zu
Unstimmigkeiten führen kann. Sicherer ist es, einen Ausdruck auf Papier später von Hand zu beschriften.
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Hat man in einem Musikstück nun beispielsweise die Proportion 5 : 6 auszuführen und will über die genaue Verteilung der 5 gegen die 6 Notenwerte Klarheit bekommen,
zeichnet man zunächst für die eine Hälfte der Proportion eine erste Tabellenzelle auf die beschriebene Weise, setzt den Cursor in sie und ergänzt eine zweite, parallele Zelle für
den Gegenrhythmus durch Betätigen der Tabulator-Taste:
Abb. 5
Dann unterteilt man auf die genannte Art die obere Zelle in 5, die untere in 6 Zellen:
Abb. 6
Hierdurch erhält man sofort ein recht genaues graphisches Abbild der Verteilung der Quintolen- gegen die Sextolennoten, wobei man sich die senkrechten Linien auch
als Notenhälse vorstellen kann.
Entsprechend sähe eine Darstellung der Proportion 7 : 13 folgendermaßen aus:
Abb. 7
Stellt dieses Verfahren in den meisten Fällen bereits eine ausreichende Hilfe dar, entfalteten sich erst bei den unbeliebten „Doppelklammern“ seine wahren Qualitäten,
wenn nämlich einzelne Abschnitte einer Proportion erneut zu unterteilen sind. Seit der seriellen Musik der 1950er Jahre ist dies häufiger in Partituren zu beobachten, und ich
habe inzwischen Klavierstücke gesehen, in denen sich mehr als zehn solcher Klammern überlagerten.
Man stelle sich vor, dass in dem vorletzten Beispiel 5 : 6 (vgl. Abb. 6) die ersten drei Werte der Quintole in 4 (Quartole) und die letzten drei der Sextole in 7 (Septole)
gleiche Abschnitte (Werte) unterteilt sind. Hierfür markiert man zunächst jene Zellengruppe, die neu zu unterteilen ist, indem man den Cursor in die erste und
anschließend bei gesenkter Umschalttaste (jene für Großbuchstaben) in die letzte zu markierende Zelle setzt. Nach dem Loslassen der Umschalttaste verbindet man diese
Zellen, indem man mit der rechten Maustaste in die Markierung klickt und aus dem erscheinenden Kontextmenü den Befehl „Zellen verbinden“ wählt. Die vertikalen
Spaltenlinien verschwinden nun, und es entsteht eine einzige große Zelle aus der vormaligen Gruppe:
Abb. 8
Abb. 9
Die beiden in Abb. 9 durch ein kräftigeres Gelb hervorgehobenen neuen Abschnitte unterteilt man nun wiederum über das Kontextmenü mit der rechten Maustaste und
dem Befehl „Zellen teilen“ (eine vorausgehende Markierung kann hier entfallen). Die Zelle 1–3 der Quintole in der oberen Zeile wird in 4, die Zelle 4–6 der Sextole in der
unteren Zeile in 7 Abschnitte unterteilt, so dass sich das folgende Bild ergibt:
Abb. 10
Für den praktischen Gebrauch kann man unter die Darstellung der gesuchten Proportion noch eine weitere Zeile anfügen (hellblau), in der man jenen Raster oder
Puls unterlegt, nach dem man innerlich zählt und der oft auch von einem Metronom hörbar gemacht werden kann.
Bei 4/4 (oder 4/8) sähe dies so aus:
Abb. 11
Das Verfahren lässt sich fast beliebig oft wiederholen, zumindest bis in Bereiche, welche weit jenseits der meisten in der Literatur anzutreffenden Komplikationen liegen.
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Nicht berührt wurde hier das Problem der Ausführung oder Kontrollierbarkeit solcher
Rhythmen. Die erreichbare Genauigkeit ist dabei in hohem Maße von Vorgaben des Tempos, aber auch vom individuellen Geschick der Spieler abhängig. Mit diesem
Thema und den manchmal recht originellen Lösungen einiger Musiker beschäftigt sich ein Beitrag an anderer Stelle (vgl. Theoretische Forderungen, praktische
Entscheidungen).
Überarbeitete Fassung. Erstdruck als Ein einfaches Verfahren zur Abbildung komplexer rhythmischer Proportionen, in: PIANO News. Magazin für Klavier und Flügel, hg. von Carsten
Dürer, Heft 3/2004, Düsseldorf: Staccato-Verlag, Mai/Juni 2004, S. 44–45. Eingabe ins Internet mit freundlicher Genehmigung des Staccato-Verlages Düsseldorf.
Erste Eingabe ins Internet: Montag, 26. Juli 2004
Letzte Änderung: Montag, 25. April 2016
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