Saubere Tasten
von
Herbert Henck
Ungeachtet aller schiefen Blicke von Seiten der Betroffenen sei hier, in gebotener Kürze und mit nur bescheidener Hoffnung auf Nachahmung, eine Lanze für die Sauberkeit gebrochen –
nicht für eine im übertragenen, sondern eine im wörtlichen, ja buchstäblichen Sinn.
Dabei geht es um nichts Geringeres als die Sauberkeit der Klaviere und bei diesen vornehmlich um die ihrer Tasten, die mir, man mag dies anders sehen, deutlich genug etwas vom Verhältnis
zwischen Spieler und Instrument, Besitzer und Benutzer zu spiegeln scheint. Selbst teuersten Exemplaren, deren Neuwert mitunter den einer kleinen Eigentumswohnung übersteigt oder das Mehrfache eines neuen
Mittelklassewagens beträgt, widerfährt gelegentlich eine Behandlung oder, besser gesagt, eine Misshandlung und groteske Vernachlässigung, die kaum je in Einklang zu bringen sind mit der Schönheit der
musikalischen Gebilde, den geistigen Gütern wie den sinnlichen Freuden, die dank ihrer Hilfe zum Leben erweckt werden können.
Das Attribut des Saubermanns, das ich mir dabei möglicherweise einhandele, stört mich umso weniger, als ich nicht zögere, das in diesem Bereich oftmals Angetroffene, Erfahrene und
Erlebte kurzweg als Schweinerei mit eben dem Namen zu bezeichnen, den das Übel verdient, und unbeirrt auch fürderhin zu jenen Mitteln zu greifen, die Abhilfe schaffen und seit geraumer Zeit fester Bestandteil meines
Reisegepäcks sind. Denn erst wenn ich ohne Ablenkung durch die sichtbaren Spuren meiner Vorgänger oder ein seltsames, befremdliches Gefühl unter den Fingern meine Aufmerksamkeit ganz den Klängen, der Gestaltung, den
Inhalten, dem Wesentlichen und seiner Produktion widmen kann, fühle ich mich wohl an einem Instrument und kann beginnen zu musizieren. Daraus folgt, dass ich beinahe vor jedem konzertanten Gebrauch eines fremden
Instruments zumindest die Tasten und öfters auch das Äußere eines Flügels (wie des Klavierstuhls) reinige. Ohne jemandem zu nahe treten oder ein schlechtes Gewissen einreden zu wollen, ist mein Tun jedoch
nicht allein von einer umfassenderen Ästhetik übernommener Verantwortung und Zuständigkeit bestimmt, sondern hat seine Grundlage zuvorderst in einem Bedürfnis nach schlichter, einfacher Hygiene, die weder
etwas zu tun hat mit klinischer Sterilität noch porentiefer Aprilfrische oder anderem Quark aus der Werbung.
Der Aufwand ist gering, die Kosten sind sehr niedrig. Nach anfänglichem Mitführen eines kleinen Fläschchens Isopropylalkohol aus der Apotheke und eines weichen Tuchs, mit denen ich die
Tasten vom Fett befreite, machte mich ein Klavierstimmer, der mein Tun beobachtete, darauf aufmerksam, dass das Verfahren nicht ganz unbedenklich und geeignet sei, die Lackierung schwarzer Tasten anzugreifen
und damit so viel Schaden wie Nutzen zu bewirken. So nahm ich davon wieder Abschied und begann, mich regelmäßig mit den Fachleuten vor Ort über die Säuberung der Instrumente zu unterhalten, wobei ich alsbald eine so
schonende wie bequeme Lösung kennen lernte.
Sie besteht im Gebrauch eines so genannten Fenstertuchs aus sehr saugfähigem synthetischem Material, wie man es in jedem Supermarkt im Regal gleich neben den Wasch- und Putzmitteln
findet. Dieses Tuch – echtes Leder hat mehrere Nachteile – wird mit warmem (notfalls auch mit kaltem) Wasser getränkt und kräftigst ausgewrungen. Um sicher zu sein, dass es nicht mehr zu feucht ist,
wickelt man es in ein Handtuch und presst es abermals aus, bis es sich nur noch klamm anfühlt. Nach dieser Ouvertüre säubert man die Tasten mit ihm, je nach Grad der Verschmutzung mehr oder minder ins Detail gehend,
und trocknet sie vorsichtshalber mit einem zweiten Tuch aus weichem Stoff ab, selbst wenn sich der dünne Feuchtigkeitsfilm an den meisten Stellen schon wieder verflüchtigt hat. Gefährlich wäre allein zu viel Nässe,
denn eine Benetzung des Tastenholzes könnte dieses quellen lassen und im schlimmsten Fall zum Klemmen oder gar zur Ablösung des Tastenbelags führen. Das noch feuchte Tuch lässt sich zusammengefaltet
problemlos in einer kleinen Plastiktüte verwahren, die, besserer Belüftung zuliebe, unverschlossen bleiben sollte. Bei nächster Gelegenheit wäscht man es mit Seife aus oder steckt es,
je nach Verschmutzung, mit in die Waschmaschine. Wird das Tuch nach einiger Zeit durch Kalkrückstände hart, ersetzt man es durch ein neues. (Der Gebrauch eines Mikrofasertuchs ist grundsätzlich zu
bedenken, da es mehrere Vorteile hat.)
Ein solches Tuch eignet sich übrigens auch dazu, die unschönen und bei jedem Verschieben des Instruments oder Öffnen des Deckels schwer vermeidbaren Finger- und Handabdrücke auf der
schwarzen Politur zu beseitigen, denen man mit einem trockenen Lappen oft nur mühsam beikommt. – Schließlich lassen sich im Innenraum eines Flügels, der in manchen Werken der Moderne ja ebenfalls bespielt
wird, mit Hilfe eines geeigneten Pinsels und eines gleichzeitig benutzten Staubsaugers wahre Wunder vollbringen, besonders im Bereich der Stimmstifte und anderer schwer zugänglicher Stellen. Ich erspare mir und
meinen Lesern eine genauere Beschreibung dessen, was sich hier im Laufe der Jahrhunderte alles angesammelt haben mag.
Äußerlichkeiten, Empfindlichkeiten, Idiosynkrasien – gewiss, gewiss. Natürlich ist eine Portion Einbildung mit im Spiel, wenn ich meine, ein sauberes Instrument klinge anders und
besser als ein verwahrlostes und danke es mir auf seine Art mit Frische, Wachheit und Wohllaut. Aber wen kümmern meine Einbildungen außer mich selbst? In Nürnberg erzählte man mir einmal von einem ziemlich
berühmten Pianisten, der drohte, seinen Chopin-Abend abzusagen, falls vor seinem Auftritt die Tasten gereinigt würden. Jedem das Seine. Wen der Schmutz nicht stört und wer dann immer noch Klavier spielt wie ein
junger Gott, dem sei er gegönnt.
Erstdruck als Saubere Tasten (Kolumne), in: Piano NEWS. Magazin für Klavier und Flügel, Heft 5/2004, Düsseldorf: Staccato-Verlag,
Sept./Okt. 2004, S. 22 f. – Durchgesehene, überarbeitete Fassung. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.
Erste Eingabe ins Internet: Donnerstag, 27. April 2006
Letzte Änderung: Dienstag, 26. April 2016
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