Neue Spieltechniken in der Klaviermusik der Moderne
Tasten – Pedale – Saiten
von
Herbert Henck
Überblickt man die Klavierliteratur von der Wende zum 20. Jahrhundert bis heute und versucht vor allem die Unterschiede zu den Spielarten früherer Zeiten zu erkennen, so tritt eine
Vielzahl von Neuerungen hervor. Diese lassen sich verschiedenen Bereichen des Instruments zuordnen und seien daher im Folgenden unter den Stichworten Tasten, Pedale und Saiten behandelt.
Der aus pianistischer Perspektive erstellte Überblick kann dabei natürlich weder die Thematik noch das Spektrum neuer Klavierklänge erschöpfen. Ausgeklammert sind Modifikationen, die
das Spiel des Musikers primär nicht beeinflussen und sich zum Beispiel aus Umstimmungen, maschineller Bespielung oder elektroakustischen Verfremdungen ergeben. Ebenso sei nur angedeutet, dass grundsätzlich jede
neue Kompositiionstechnik spezifische Spielweisen zur Folge hat, denkt man etwa an die polyphonen Satzweisen der Zweiten Wiener Schule, die motorisch-perkussiven Spielarten im Umkreis Strawinskys oder die
repetitiven Strukturen der Minimal Music.
Hinzuweisen ist vorab auch darauf, dass es sich bei den genannten Neuerungen fast immer um Ausnahmen handelt. Das konventionelle Spiel auf den Klaviertasten, das sich
hauptsächlich im 18. und 19. Jahrhundert ausbildete, stand noch in vergleichsweise enger Wechselwirkung mit der Konstruktion der Instrumente vom mechanischen Detail bis hin zu den Abmessungen im Großen. Diese
Entwicklung im Klavierbau kam um 1900 weitgehend zum Abschluss, da zum einen manche der verwendeten Materialien an die Grenze ihrer Belastbarkeit stießen, zum andern eine kaum mehr steigerbare Perfektion erreicht
war, welche den meisten musikalischen Ansprüchen genügte.
Die nach der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert einsetzenden Neuerungen begriffen die Konzertflügel daher nicht länger als etwas Verbesserungsbedürftiges, sondern nahmen das zu einem
technischen Spitzenprodukt Verfeinerte gewöhnlich als Standard, an dem sich anderes messen lassen musste. Die Instrumente der Vergangenheit und das traditionelle Klavierspiel auf den Tasten blieben fortan das
Fundament. Wurden überhaupt noch bauliche Modifikationen vorgenommen, fanden sie nur an Einzelexemplaren statt und gingen nicht in Serienfertigungen ein, da die Kosten zu hoch und der Bedarf zu gering waren.
Auf Grund solcher Überlegungen suchte man im zwanzigsten Jahrhundert eher nach Möglichkeiten, die Vorgaben der Instrumente in ungewohnter, unorthodoxer Weise zu interpretieren und die
ihnen innewohnende Plastizität mit den zeitgemäßen ästhetischen Vorstellungen in Einklang zu bringen. Eine ganze Reihe von Klangwirkungen wurde dabei mehr entdeckt als erfunden, die von den Klavierbauern
ursprünglich sicher nicht bedacht, gleichwohl aber vorhanden waren und sich auch sinnvoll in musikalische Zusammenhänge einfügen ließen.
Tasten
Zu den wichtigsten Neuerungen, die von den Tasten ausgehen, gehört der so genannte stumme Anschlag. Durch tonloses Senken einer Taste lässt sich der Dämpfer von der zugehörigen Saite
abheben, die nun durch normale Anschläge anderer Saiten zum Mitschwingen (Resonanz) angeregt werden kann. Das Verfahren trennt die zwei gewöhnlich verbundenen Aktionen von Anschlag und Dämpfung. Um die
Beweglichkeit der Hände durch das Gesenkthalten der Taste(n) nicht einzuschränken, werden die angehobenen Dämpfer häufig mit dem Tonhaltepedal, gelegentlich auch mit anderen Mitteln fixiert. Als Erfinder gilt
Schönberg, der erstmals 1909 den tonlosen Anschlag notierte, um kurze, laute Töne leise („flageolettartig“) weiterklingen zu lassen. [Siehe jedoch meinen Aufsatz über Jules Burgmein, in dem diese Spielart schon 1883, in akustischen Untersuchungen noch früher nachgewiesen wird. In
Wirklichkeit handelt es sich jedoch eher um Resonanzen, nicht um Flageolette.] Berg, Cowell, Casella, Bartók, Strawinsky und viele andere übernahmen Schönbergs Verfahren, das in Werken von Cage, Boulez oder
Stockhausen mitunter fast zentrale Bedeutung erlangt und den Klängen eine besondere Räumlichkeit (Halligkeit) verleiht. Des öfteren wurde für diese spezielle Klangfarbe ein stummer Cluster in den Bass
gelegt, da so die deutlichsten Resonanzen zu erzielen sind. Ein anderes Verfahren, die Saiten (anstatt zum direkten Anschlag) zur Resonanz zu verwenden, bietet das weiter unten beschriebene „pédale
harmonique“.
Berühmt für ihre Cluster wurden Cowell, Antheil und Ornstein (seit etwa 1912). Ihre Cluster erreichen mitunter eine solche Breite, dass für den Anschlag die Handfläche oder der
Unterarm benutzt werden muss. Andere Pioniere sind Rebikow und Ives. Bei Ives begegnet man Clustern sowohl in ihrer tonhaften wie stummen Form, und einige werden zudem mit einer filzbezogenen Holzleiste
angeschlagen, was eine manuell kaum erreichbare klangliche Homogenität erzeugt. Die Anwendung dieses Hilfsmittels, das Vorläufer in der Orgelliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts hat (Balbastre, Blanchet), wurde
in der Neuzeit meist unter Bezug auf Ives fortgesetzt und schließlich auf die gesamte Klaviatur ausgedehnt (W. Russell, von Biel, Garland, Mosconi).
Eng mit dem Cluster ist das Glissando verbunden, denn beide Klanggestalten gründen primär nicht auf theoretischen Überlegungen, sondern ergeben sich aus der mechanisch-praktischen
Bespielbarkeit der Klaviatur. Das Glissando führt sukzessiv aus, was im Cluster simultan enthalten ist. Die Anlage der Tasten (Untertasten, Obertasten) geht dabei unittelbar in den Klang ein und bildet
eine Größe, die sich der Integration in kompositorische Systeme (Tonalität, Reihentechniken) widersetzt und so lange eine hohe Auffälligkeit besitzt, als sie die Ausnahme bleibt und nicht autonom behandelt
wird. Dem entspricht, dass beide Gestalten in früherer Zeit oft nur aus programmatischen Anlässen benutzt wurden: Cluster zumeist als Donner oder Kanonenschüsse, Glissandi etwa als Verstreichen der Butter im
„Tartine de beurre“ (einst Mozart zugeschrieben) oder als Sensenstreiche des Todes (Liszt).
Erst in neuerer Zeit wird das Klavierglissando als eigenständige Gestalt behandelt. Wie bei den Clustern benutzt man im 20. Jahrhundert mitunter Hilfsmittel für Glissandi, um die
Reibung an den Tasten zu verringern und die Geschwindigkeit zu steigern (halbe Handschuhe bei Stockhausen oder eine Betuchung des Waagebalkenholzes zur Ausführung echtchromatischer Glissandi in einigen Studien
des Verfassers).
Die Möglichkeit, kompositorisch von den Tastengattungen auszugehen und die Hände nach Ober- und Untertasten zu sondern, nutzen unter anderen Ives, Cowell, Casella, Strawinsky, Messiaen,
Kurtág, Lachenmann oder Ligeti. Slonimsky widmet der Technik mehrere Werke, darunter seine „Studies in Black and White“ (1928). Als Vorläufer genannt seien Werke von Abbé Vogler, Chopin, Liszt oder
Rossini, wobei nicht immer ganze Kompositionen, sondern oft auch nur einzelne Abschnitte auf das Phänomen ausgerichtet sind.
Pedale
Die Benutzung der Pedale ist in der Neuzeit zum Teil erheblich erweitert worden. Das Sostenutopedal („pédale tonale“, Boisselot, 1844) wird vermehrt eingesetzt, um über
Orgelpunkten nicht nur polyphoner spielen zu können, sondern zum selben Zweck auch stumme Anschläge zu fixieren. Das Fortepedal bleibt manchmal über ganze Kompositionen hindurch gesenkt und bildet dabei eine
eigene Harmonik aus (Cage, „In a Landscape“, 1948). Darüber hinaus werden Unterteilungen wie ½, ¼ Pedal usw. notiert, um das Auflagegewicht der Dämpfer und den Nachhall der Klänge
präziser zu bezeichnen.
Erwähnenswert ist das innovative „pédale harmonique“, ein viertes, in zwei Stufen senkbares Pedal, dessen Erfinder der Franzose Denis de La Rochefordière ist. Das 1986
patentierte System besteht im Prinzip darin, dass in der Pedalstellung „rémanence“ alle Dämpfer angehoben sind, nach einem Anschlag durch einen besonderen Mechanismus jedoch individuell auf die Saiten
zurückkehren, sobald sich die Finger von den Tasten lösen. Ob die Töne zuvor akkordisch oder zeitlich versetzt angeschlagen wurden, spielt dabei keine Rolle. Die ursprünglichen Saitenschwingungen werden zwar
gedämpft, bleiben jedoch als Resonanz auf allen noch unbespielten Saiten des Instruments erhalten und klingen hier leise weiter.
Eine besondere Verwendung des Una-corda-Pedals schreibt R. Kayn in seinen „Quanten“ (1957) vor. Die Saitenchore sind hier nicht einheitlich gestimmt, und die Ausklammerung
einer Saite durch die Verschiebung des Pedals führt zu bedeutenden klanglichen Veränderungen.
Von der Möglichkeit, bei Klavieren (nicht Flügeln) durch Anziehen der Pedalschraube nicht über die Tasten, sondern allein mit Hilfe des Pianopedals Anschläge bis hin zum alle Saiten
erfassenden Cluster zu produzieren, habe ich in meinen 1993 entstandenen Pedal-„Studien“ Gebrauch gemacht. Hinzu kamen Verfahren, Saiten über das Tonhaltepedal allein mit den Dämpfern anzuschlagen.
Saiten
Berücksichtigt sei hier auch das Spiel auf den Saiten, das vor allem durch Cowells Experimente verbreitet wurde. Saiten-Glissandi, clusterartige Schläge auf die Saiten, gezupfte,
gedämpfte, mit Bogenhaar angestrichene oder mit verschiedensten Schlägeln angeschlagene Saiten erschlossen eine geradezu unendliche Vielfalt neuer Klänge, die sich durch das Spiel auf den Tasten und stumme Griffe
ergänzen ließ. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang besonders das Klavierflageolett, bei dem eine Saite an einem ihrer Flageolettpunkte (mit einem Finger) berührt und gleichzeitig normal
angeschlagen wird. Eine Art von Mode entstand, den Flügel wie ein Schlag- und Geräuschinstrument zu nutzen und sämtliche irgend zugänglichen Teile von ihm als Mittel zur Klangerzeugung zu betrachten. Viele
Komponisten, der inflationär sich mehrenden Effekte und einer Profanisierung des Instruments müde, kehrten alsbald aber wieder zu den Tasten zurück. Gerade Werke von Cage, die aus Cowells Umfeld stammten,
behaupteten sich aber („Music of Changes“, „Music for Piano“), vielleicht weil sie aus einer glaubwürdigen Weltanschauung hervorgingen und das Unerwartete zu ihrer ästhetischen wie ideologischen
Grundlage machten.
Auf Cage geht noch eine andere Nutzung der Klaviersaiten zurück, die wohl zu den schönsten Neuerungen überhaupt zählt. Es ist die Erfindung des präparierten Klaviers (1940), bei dem
diverse Metallschrauben, aber auch Gummistücke und andere Materialien zwischen die Saiten geklemmt werden. Die Tonhöhen und Farben erfahren hierdurch eine so drastische Änderung, dass man eher an ein kleines
Gamelanorchester als an den Klang eines Flügels erinnert ist. Gespielt wird diese Musik konventionell auf den Tasten, doch wird die traditionelle Notation zur Tabulatur. Die Präparierungen werden immer von den
Interpreten selbst und oft sehr subjektiv angebracht, und die Spielart ist sorgfältig auf die individuelle klangliche Verfremdung abzustimmen. Selbstverständlich sollte eine Präparierung nur auf älteren,
nicht auf nagelneuen Flügeln vorgenommen werden.
Angefügt sei zum Schluss noch, zu welch monströsem Extrem das Klavier sich zumindest theoretisch wandeln kann. Eine Idee des Komponisten K. Sorabji,
der zahlreiche überdimensionale und sehr anspruchsvolle Klavierwerke schuf, zielte 1932 auf ein klavierähnliches Instrument, in dem riesige Stimmgabeln höchster Güte von einer Janko-Tastatur aus
bespielt werden, und zwar mit derselben mechanischen Leichtigkeit, wie sie ein Konzertflügel bietet. Nicht weniger als 15 bis 20 Tonnen sollte das Instrument wiegen und wie eine Orgel einem Gebäude dauerhaft
verbunden sein. Leider wurde seine Utopie nie Realität.
Literaturhinweise
Vom Verfasser: Experimentelle Pianistik, Mainz 1994. – Klaviercluster, Münster 2004. – Internetpublikation Klaviaturen: Gestalt und Bespielbarkeit
Webseiten zum pédale harmonique
ferner: K. Sorabji, Towards a New Keyboard Instrument of the Piano Type, in: ders., Around Music, London 1932, S. 206 ff.
Überarbeitete Fassung des Erstdrucks in niederländischer Sprache als Nieuwe speeltechnieken in de moderne piano muziek, Übersetzung von Ignace Bossuyt, in: Jan Christiaens und Elise Simoens, STEINWAY170.
Programmaboek en catalogus STEINWAY170 (ISBN 90-810397-2-5), Brugge: Concertgebouw, [November] 2006, S. 44–47
Erste Eingabe ins Internet: Freitag, 29. Dezember 2006
Letzte Änderung: Montag, 25. April 2016
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