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Klaviermusik von Alexander Mossolow
von
Herbert Henck
Nachstehender, 1995 entstandener und im Dezember 2003 revidierter Text wurde für das Booklet folgender
CD geschrieben: Aleksandr Mosolov, Sonate Nr. 2 (Aus alten Heften), op. 4, H-Moll, Deux Nocturnes, op. 15, Sonate Nr. 5, D-Moll, op. 12; Herbert Henck, Piano; München: ECM (ECM New Series 1569), © 1996. Eingabe ins Internet mit freundlicher Genehmigung durch ECM, München.
Meine erste Bekanntschaft mit der avantgardistischen Musik Russlands aus den revolutionären Jahren um 1920 machte ich im Rahmen des vom Westdeutschen Rundfunk in Köln vorbereiteten
Festivals »Begegnung mit der Sowjetunion«, das im März 1979 stattfand. Das Programm enthielt neben jüngeren Arbeiten aus den sechziger und siebziger Jahren auch zahlreiche ältere Werke von Komponisten, die in
ihrem Heimatland auf Grund mangelnder Anpassung an eine staatlich reglementierte Ästhetik oft jahrzehntelang benachteiligt, diffamiert und unterdrückt worden waren. Zu diesen zählte auch Alexander Mossolow
(1900–1973), dessen Orchesterstück Die Eisengießerei (1928) und Vier Lieder auf Zeitungsannoncen (um 1928) in Köln zur Aufführung kamen.
Die Zusammenstellung der dreitägigen Veranstaltung, die durch ihre geschichtliche Aufarbeitung von Versäumtem und die überfällige Rehabilitierung einzelner Künstlerpersönlichkeiten als
bahnbrechend bezeichnet werden darf, war dem Musikologen Detlef Gojowy zu danken, einem der besten Kenner der russischen Musik des zwanzigsten Jahrhunderts und Verfasser eines grundlegenden Buches über ihre komplexe
Entwicklung in den zwanziger Jahren. Ich war als Pianist eingeladen worden, in deutscher Erstaufführung Klavierstücke von Josef Schillinger, Boris Alexandrow, Nikolai Roslavetz und Arthur Lourié zu spielen.
Die Werke, deren Verfasser mir seinerzeit selbst namentlich noch unbekannt waren, stammten aus der Zeit zwischen 1914 und 1928 und zeigten zum Teil kompositorische Errungenschaften,
die man ansonsten der Avantgarde Westeuropas vorbehalten glaubte. Die überkommene Harmonik wurde bis hin zur schärfsten Dissonanz aufgelöst, Noten wurden unter graphischen Gesichtspunkten angeordnet, oder es wurden,
unabhängig von ähnlichen Bestrebungen andernorts, eigenständige Konzepte zur Tonhöhenorganisation (auch Zwölftontechniken) entwickelt. Neue, moderne Themen kamen zur Darstellung. Die Musik trat vielfach
propagandistisch in den Dienst politischer, gesellschaftsverändernder Ideen, und die Welt der Arbeit, Maschinen und Technik wurde ebenso wie das Leben der Großstadt Gegenstand der Kunst. Parallel hierzu erkannte man
die Bedeutung folkloristischer Traditionen und begann allerorts, das bedrohte Erbe nicht nur zu dokumentieren und zu sammeln, sondern auch kompositorisch mit der Kunstmusik zu verbinden. Allen diesen Strömungen
begegnete man in Mossolows Werk.
Im Jahre 1983 ergab sich die Gelegenheit, mehrere von Mossolows Kompositionen für Klavier einzustudieren – seine zweite, vierte und fünfte Sonate sowie die beiden Nocturnes.
Ich spielte sie erstmals öffentlich in der Berliner Akademie der Künste im Rahmen der 33. Berliner Festwochen, in die eine dreiteilige Reihe mit dem Thema »Symbolismus, Futurismus. Aspekte russischer Musik
zu Beginn des 20. Jahrhunderts« eingegliedert war. Dieser Programmblock war von dem Komponisten und Musikologen Juan Allende-Blin erarbeitet worden und widmete das zweite Konzert unter dem Motto »Musik um
den Futurismus – Skrjabin und die Skrjabinisten« am 2. September allein dem Schaffen Mossolows, eine in 0st wie West gleichermaßen damals außergewöhnliche Ehrung.
Fünf Sonaten aus den Jahren zwischen 1923 und 1925 bilden das Zentrum von Mossolows Klavierwerk. Der Komponist wich hierbei von der chronologischen Folge ab und zog die 1924 eigentlich
als zweite entstandene Sonate in C-Moll (op. 3) als erste vor. Vielleicht empfand er ihren einsätzigen Entwurf innovativer, kompromissloser und für den Beginn eines Sonatenzyklus besser geeignet als die
vorausgegangene klassisch dreisätzige Sonate in H-Moll (op. 4, 1923 bis 1924), deren rückgreifenden Aspekt er mit dem Untertitel »Aus alten Heften« kenntlich machte. Denselben Untertitel hatte bereits der junge
Sergej Prokofjew für seine dritte und vierte Klaviersonate 1907/08 verwendet, und möglicherweise knüpfte Mossolow auch hiermit bewusst an eine Tradition an. Mossolows dritte Sonate (op. 6) ist verschollen,
wenngleich eine Aufführung in Moskau am 20. Oktober 1924 belegt ist; die vierte (op. 11, 1925) ist einsätzig wie die erste, die fünfte (op. 12, 1925) in D-Moll erstmals viersätzig. 1991 erschien in Moskau ein
achtzigseitiges Heft mit unveränderten Nachdrucken der vier erhaltenen Sonaten, die noch in den zwanziger Jahren verlegt worden waren, und zwar zumeist in gemeinschaftlichen Ausgaben der Musiksektion des
Russischen Staatsverlages (Moskau) und der Universal-Edition A. G. (Wien und Leipzig).
Die in rascher Folge verfassten Sonaten, in denen die Farben und Register des modernen Konzertflügels zu voller Entfaltung und Virtuosität kommen und die in ihrer Kraftentfaltung,
Weitgriffigkeit, Vielschichtigkeit oder der Anforderung an ihre Tempi für einen einzelnen Spieler oft an die Grenzen des technisch Ausführbaren stoßen, tragen zugleich symphonisch-dramatische Züge und
lassen sich leicht orchestriert vorstellen. Kurze Zeit später beschränkte sich Mossolow, der seine Werke auch selbst in Konzerten aufführte und ein exzellenter Pianist gewesen sein muss, in seinen Kompositionen für
Klavier allerdings ganz auf miniaturartige, aphoristische Formen: 1925 und 1926 entstanden die Deux Nocturnes (op. 15), 1928 die Drei kleinen Stücke (op. 23a), 1929 die Zwei Tänze (op. 23b), 1930 die dreisätzigen Turkmenischen Nächte und die Zwei Stücke für
Klavier (auf usbekische Themen) (op. 31). In zwei Klavierkonzerten (1927 und 1932) führte er das symphonische Element jedoch fort. Nach dem zweiten Klavierkonzert, dem kirgisische Themen zugrunde liegen,
scheint Mossolow keine solistischen Werke mehr für dieses Instrument komponiert zu haben.
Musikalisch-pianistisch gesehen handelt es sich bei Mossolows Klavierwerken um hochvirtuose Musik, deren Verbundenheit mit der klassisch-romantischen Tradition bis hin zum Spätwerk
Alexander Skrjabins (1871–1915) oder Frühwerk Sergej Prokofjews (1891–1953) unverkennbar ist. Dunkle, düstere Farben, die sich aus der Bassregion des Klaviers lösen, geben vielfach ihren
Grundton an. Trauer und Wut, Aggression und Depression begegnen einander auf engstem Raum und streben in Steigerungen von oft heftigster Leidenschaftlichkeit nach Ausgleich. Solche Stimmungen müssen nicht
interpretatorisch erschlossen oder in die Musik hineingedeutet werden: Der Komponist selbst benennt sie durch zahlreiche Tempo- und Vortragsbezeichnungen, die das Maß, ja die Gewalt der hier ausgetragenen Spannungen
erkennen lassen, Spannungen, die den von Mossolow in vorderster Front erlebten revolutionären Kampf und die erlittenen körperlichen und seelischen Wunden unmittelbar zu spiegeln scheinen.
Neben den immer wiederkehrenden lugubre – trauernd und feroce – wild, deren Dialektik mehrfach thematische Züge annimmt, findet man eine große Zahl zum
Teil ungebräuchlicher Spielanweisungen wie irato – zornig, furioso – wild, infernale – infernalisch, tumultuoso – tumultuös, rabbiosamente – wütend, severo – ernst, misterioso – geheimnisvoll, precipitoso – herabstürzend, elevato – erhaben, estatico – ekstatisch, elegiaco – elegisch, ironico – ironisch, innocente – unschuldig, con entusiasmo – mit Begeisterung, affanato – unruhig, sonoro – klangvoll, sospirando – seufzend, impetuoso – stürmisch, affrettando – eilend, con tutta
forza – mit aller Kraft, languente – sehnsuchtsvoll, triomphale – triumphierend, con festività – mit Festlichkeit, grandioso – prachtvoll.
Dieser bekenntnishafte Ausdruckswillen, die Unmittelbarkeit, die in solcher Spannweite expressiver Bezeichnung sichtbar wird, wird allerdings auf zweierlei Weise von konstruktiven
kompositorischen Elementen getragen, die ein Feld der Spannung zweiter Ordnung bilden: Zum einen werden ständig musikalische Zellen – im Umfang weniger motivartiger Noten bis hin zu mehrtaktigen Perioden
– wiederholt, was sich grundsätzlich dem musikalischen Fluß entgegenstellt und zu einer terrassenförmig abgesetzten, in der Literatur gelegentlich als »Baukastensatz« klassifizierten Struktur führt. Zum
anderen ist fast stets eine ostinate Motorik, ein sich wellenförmig beschleunigender und verlangsamender Puls zu spüren, der die Musik wie ein Herzschlag durchpocht und jede Wiederholung zugleich als ein Anwachsen
oder Nachlassen emotionaler Energien erleben läßt.
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Alexander Mossolow wurde am 29. Juli (nach heutigem Kalender am 2. August) 1900 in Kiew geboren und wuchs in großbürgerlichen Verhältnissen auf. Nach der Übersiedlung nach Moskau (1904)
war seine Mutter, Nina Alexandrowna Mossolowa (1882–1953), zeitweilig als Koloratursopranistin am Bolschoi-Theater tätig; sein Vater, ein Advokat, starb bereits 1905. Nach mehrfachen Verweisen vom Gymnasium
schloss sich Mossolow 1917, siebzehnjährig, den Ideen der russischen Revolution an und arbeitete im Sekretariat des Volkskommissars für staatliche Kontrolle. Dreimal hatte er Gelegenheit, Lenin persönlich eine
Postsache zu überreichen, Begegnungen, die lebenslang in ihm nachwirkten. 1918 ging Mossolow als Freiwilliger zur Roten Garde und nahm an den Kämpfen gegen die Weißgardisten an der polnischen und ukrainischen Front
teil. Er wurde zweimal verwundet und 1920 aus gesundheitlichen Gründen aus der Roten Armee entlassen, nachdem er zweimal mit dem Orden des Roten Kriegsbanners ausgezeichnet worden war.
Anfang der zwanziger Jahre arbeitete Mossolow, um Geld zu verdienen, als Stummfilmpianist, und in diese Zeit fallen seine ersten Kompositionsversuche. Ab 1922 nahm er privaten
Kompositionsunterricht bei Reinhold Glière und begann noch im selben Jahr ein Musikstudium am Moskauer Konservatorium (Komposition bei Nikolaj Mjaskowskij, Klavier bei Grigorij Prokofiew), das bis 1925 dauerte. Im
selben Jahr wurde er Mitglied der westlich ausgerichteten Assoziation für zeitgenössische Musik, die von 1924 bis 1929 bestand, und bald darauf Leiter ihrer Sektion für Kammermusik. Von 1927 bis 1929 arbeitete er
als Rundfunkredakteur.
Der Umfang von Mossolows Komponieren um die Mitte der zwanziger Jahre ist erstaunlich. Neben den genannten Klavierwerken schrieb er unter anderem Orchesterwerke (Die Dämmerung, Stahl mit der berühmten Eisengießerei),
eine Symphonie (op. 20), zwei Opern (Der Held, Der Damm), eine Reihe von Liedern und zahlreiche Kammermusikwerke, darunter ein Streichquartett und ein Klaviertrio. Leider ging durch den Diebstahl eines
Koffers mit Manuskripten um 1930 eine beträchtliche Anzahl von Werken verloren.
Besonders durch seine 1928 komponierte Eisengießerei wurde Mossolow international bekannt. Zahlreiche Orchester nahmen das Werk in ihr Repertoire. Allein das Orchester der
Leningrader Philharmonie spielte es neunmal, im Westen zeigten Hermann Scherchen und Leopold Stokowski Interesse, in New York erklang es unter Arturo Toscanini. Mossolows Streichquartett op. 24 stand 1927 in
Frankfurt am Main auf dem Programm des Festivals der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik und erhielt durch Adorno eine gnädige Besprechung.
Der Erfolg war jedoch nicht von Dauer. Ende der zwanziger Jahre sah sich Mossolow immer stärker Angriffen der Russischen Vereinigung proletarischer Musikschaffender ausgesetzt, einer dem
Arbeiterkult verpflichteten Organisation, und Anfang der dreißiger Jahre waren kaum noch Werke von ihm zu hören. Der Komponist, dessen Schaffenskraft in dieser Zeit erheblich nachließ, mäßigte seine
musikalische Sprache, bezog sich wieder vermehrt auf die unverfängliche Dur-Moll-Harmonik und wandte sich folkloristischen Quellen zu.
In den dreißiger und vierziger Jahren nahm Mossolow, der »wegen öffentlicher Trunksucht und Ruhestörung« 1936 zeitweilig aus dem Komponistenverband ausgeschlossen worden war, an mehreren
Volksliedexpeditionen teil. Er dokumentierte die Folklore Turkmeniens, Kirgisiens, Baschkiriens, des nördlichen Osseniens, im Gebiet um Krasnodar und Stavropol und in der Karbadinischen Autonomen Republik. 1956
publizierte er in der Zeitschrift »Sowjetskaja musyka« seine Erfahrungen und resümierte hinsichtlich der Erhaltung des Volksmusikgutes: »Hilfe tut not – seriöse Hilfe, und vor allem: Sie ist unaufschiebbar.«
Aus der folkloristischen Arbeit ergaben sich neue kompositorische Anstöße. Mehrfach schrieb Mossolow Werke für verschiedene Nationalensembles oder arbeitete mit folkloristischen
Elementen, so etwa in Orchestersuiten, Liedern, Chorwerken und Bearbeitungen. Daneben entstanden weitere Symphonien und Oratorien, zwei neue Opern, ein Harfen- und ein Cellokonzert und weitere Kammermusik.
Erst einige Jahre nach Mossolows Tod – er starb am 11. Juli 1973 in Moskau – setzte seine Wiederentdeckung ein. Die Werke aus den zwanziger Jahren, deren Originalität und
zukunftsweisenden Charakter man jetzt erst richtig einschätzen lernte, spielten hierbei die zentrale Rolle. Insbesondere erschien die Eisengießerei wieder auf Konzertprogrammen in Frankreich, Polen, England
und der CSSR, 1975 schließlich auch in Moskau unter Evgenij Svetlanov. 1976 publizierte Inna Barssowa ihren glänzenden Aufsatz über Mossolows Frühwerk in der Zeitschrift »Sowjetskaja musyka«, der in erweiterter
deutscher Fassung 1979 im »Peters-Jahrbuch« (Leipzig) abgedruckt wurde.
Vgl. auch Konzertprogramme: Alexander Mossolow, Klaviermusik
CD-Einspielung: Sonate Nr. 2 (Aus alten Heften), op. 4, H-Moll; Deux Nocturnes, op. 15; Sonate Nr. 5,
D-Moll, op. 12, Tonaufnahmen: 6. und 7. März 1995 in Frankfurt am Main / Preungesheim, (Evangelische Festeburgkirche), ECM, München, Katalognr. ECM NEW SERIES 1569, © 1996
Erste Eingabe ins Internet: Montag, 15. Dezember 2003
Letzte Änderung: Sonntag, 24. April 2016
© 1996 ECM Records, München / © 2003–2016 by Herbert Henck
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